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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

in die Tiefe blicken. Es giebt viele Menschen, die völlig schwindelfrei sind, die von den größten Höhen in die tiefsten Abgründe blicken können, sogar von mangelhaft gesichertem Platze aus, ohne daß ihnen irgend eine peinliche Vorstellung kommt. Andere dagegen werden von lebhaftem Unbehagen erfaßt, wenn sie nur aus dem Fenster oder vom Balkon eines ersten Stockwerkes aus auf die Straße sehen sollen, es macht sie ängstlich und schwindlig, wenn sie im Theater in einem der erhöhten Ränge sitzen müssen. Der Grad der Mißempfindungen wechselt von dem unüberwindbaren Gefühl, daß einem der Blick in die Tiefe unangenehm sei, bis zu deutlichen Schwindelgefühlen und zu unüberwindlicher Angst, die das Verbleiben in der betreffenden Situation ganz unmöglich macht. Bei dem Besteigen von Bergen und von Türmen geht vielfach der Anstieg ohne Schwierigkeit vor sich, namentlich solange der Steiger dabei den Weg vor sich hat; vielleicht kann er auch noch oben die Aussicht von einem ruhigen Sitzplatze aus mit Genuß in sich aufnehmen, wenn er aber beim Abstieg die Tiefe vor sich hat oder in das Halbdunkel einer Wendeltreppe hinab soll, treten Angst und Schwindel ein. Häufig kann man beobachten, daß manche schwindelfrei sind, solange sie allein gehen, aber von heftigem Schwindel erfaßt werden, wenn sie die vor oder neben ihnen Gehenden betrachten. Daraus ergiebt sich zugleich, daß es durchaus nicht etwa nur das Gefühl der eigenen Gefahr ist, was das Mißbehagen ausmacht. Viele Menschen haben übrigens ganz dieselben Empfindungen, wenn sie vom sicheren Erdboden aus andere auf Türmen, Dächern oder steilen Anhöhen stehen oder gehen sehen. Besonders leicht stellen sich bei vielen die unangenehmen Gefühle ein, wenn zu der Vorstellung des Höhenunterschiedes noch das Bewußtsein hinzutritt, in der Freiheit der eigenen Bewegung beschränkt zu sein. Man beobachtet das sehr oft, wenn so Empfindliche im Wagen einen etwas steilen Weg hinabführen oder auf einem gewölbten Straßendamm den Verdeckplatz eines Omnibus innehaben; auch die Beklemmung bei der Benutzung von Fahrstühlen gehört wenigstens teilweise hierher. Die Zahl der Beispiele ließe sich nach der Erfahrung leicht noch außerordentlich vermehren, aber es sind immer dieselben Verhältnisse, die in jedem Falle wiederkehren. Wer von den Lesern über eigene Wahrnehmungen verfügt, wird sie leicht in die angedeuteten Gruppen unterbringen können.

Für die Beurteilung und Behandlung der Zustände ist es wichtig, daß sie bei einem und demselben Menschen durchaus nicht immer in derselben Stärke auftreten. Menschen, die für gewöhnlich vollkommen schwindelfrei sind, können zu gewissen Zeiten in dieser Richtung äußerst empfindlich sein. Am meisten disponieren dazu die Zeit unmittelbar nach erschöpfenden Krankheiten, geistige Ueberanstrengung durch Arbeit oder durch Gemütsbewegungen und die dem übermäßigen Alkoholgenuß folgende Abspannung. Unter all diesen Verhältnissen sieht man sogar beim Gehen auf glattem Boden, beim Treppenabstieg etc. gelegentlich Schwindelgefühle auftreten. Auch der sogenannte Nachtschwindel, das im Schlaf oder im Halbwachen auftretende Gefühl des Indietiefestürzens, kommt besonders den genannten Erschöpfungszuständen zu. Wenn man also nicht schon aus manchen psychologischen Berührungspunkten und aus der gesteigerten Anlage nervöser Menschen den Schwindel den neurasthenischen Störungen zurechnen müßte, würde sein oft direkter Zusammenhang mit akuter Nervenerschöpfung über seine Stellung belehren. Das wird auch durch die erprobten Heilmittel gegen die Schwindelzustände bestätigt. Alles, was das Nervensystem kräftigt und beruhigt, vermindert die Neigung zu Schwindel. Man könnte deshalb für die Bekämpfung dieser peinlichen Anlage einfach auf die Regeln der Gesundheitspflege der Nerven verweisen, wie ich sie in meinem Buche „Gesunde Nerven“ (Rostock, W. Werthers Verlag, 2. Aufl. 1897) zusammengestellt habe. Es mag aber immerhin von Wert sein, hier einige Punkte genauer zu besprechen, die für diesen besonderen Fall wichtig sind.

Zunächst muß betont werden, daß das erste Auskunftsmittel der weniger Eingeweihten, der krankhaften Erscheinung mit Aufbietung der Willenskraft entgegenzutreten, sehr zweischneidig wirkt. In ganz leichten Fällen und namentlich bei schnell vorübergehender Disposition zu Schwindelanwandlungen mag es ganz gute Dienste thun, durch Ueberwindung und Gewöhnung die Empfindungen zu bekämpfen. In allen schwereren Fällen wird damit nur geschadet: durch die erneute Erschütterung wächst die Empfindlichkeit oft in solchem Maße, daß die Schwindel- und Angstgefühle nun auch in den Traum übergehen und immer größeren Platz in den Vorstellungen einnehmen. Es ist klar, daß damit die erstrebte Gleichgültigkeit gegen den peinlichen Eindruck nicht erreicht werden kann. Erfahrene Bergsteiger wissen auch ganz gut, daß man die Sache nicht forcieren kann, und ruhen lieber einen Tag, wenn sie sich solcher Disposition bewußt sind. Oft genügt ein längeres Ausruhen und eine gute Nacht, um wieder die nötige Sicherheit zu gewinnen.

Aus der berührten ursächlichen Bedeutung des übermäßigen Alkoholgenusses ergiebt sich schon, daß der oft genug angewendete Rat, den Schwindel mit einem Glase Portwein oder Cognac zu vertreiben, mindestens sehr trügerische und nur Augenblickserfolge haben kann. Wie bei allen nervösen Schwächezuständen muß daher auch hier dringend davor gewarnt werden, in dem Alkohol ein Heilmittel zu sehen. Gerade bei länger dauernder Anlage zu Schwindel sieht man regelmäßig sehr ungünstige Wirkungen. Die Hochtouristen haben ja auch schon lange auf dies Anregungsmittel verzichtet, weil sie es als gefährlich erkannt haben.

Ebenso verfehlt würde es sein, die dem Schwindel zu Grunde liegende vermehrte Reizbarkeit, wie es oft geschieht, mit kalten Bädern und kalten Abreibungen bekämpfen zu wollen. Es kann nicht oft und nicht dringend genug betont werden, daß die kalten Wasserprozeduren erregend auf das Nervensystem wirken. Wo die beruhigende, stärkende Wirkung am Platze ist, kommen nur sehr milde Wasseranwendungen in Frage, am besten Halbbäder von 26 bis 24 Grad Réaumur mit Bespülungen des Oberkörpers mit demselben Wasser, vier Minuten lang, täglich oder jeden zweiten Tag genommen. Weniger gut sind nasse Abklatschungen mit einem Laken von 24 Grad Réaumur, ohne starkes Reiben. Nach jeder solchen Wasseranwendung ist eine halbe Stunde Ruhe nötig.

Auch im übrigen soll das Verhalten schonend und ruhig sein. So wertvoll für alle Menschen der Genuß frischer Luft ist, so unzweckmäßig sind bei Erschöpfungszuständen gewaltsame, anstrengende Spaziergänge und andere angreifende körperliche Uebungen. In den Erholungen soll ebenso wie in der Arbeit ein vernünftiges, den Kräften angemessenes Gleichmaß und Mittelmaß beobachtet werden. Nur dadurch läßt sich eine Kräftigung des Nervensystems und vermehrte Widerstandsfähigkeit erzielen. Wo diese Maßregeln der Gesundheitspflege nicht ausreichen, um die Beschwerden zu beseitigen, ist fachmännischer Rat einzuholen; hier tritt die Kunst des Arztes ein, die den Einzelfall in allen seinen Bedingungen erfaßt und deshalb nie zum Gemeingut werden kann.




Eugenie John-Marlitt.

Mit bisher ungedruckten Briefen und Mitteilungen.0 Von Moritz Necker.

Eugenie John-Marlitt hatte ihr Leben lang eine eigene Scheu davor, persönlich Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein. Das ging ihr gegen die Natur, sie empfand es geradezu als eine Pein. In der Jugend, wo sie als Opernsängerin debütierte, litt sie unter den Qualen des Lampenfiebers dermaßen, daß sie erkrankte. Im Alter, als sie schon die berühmte Erzählerin der „Gartenlaube“ war, ließ sie sich vor jedem fremden Besucher verleugnen. Auch die Wahl eines Pseudonyms für ihre Romane war eine Folge dieser Scheu. In ihrem ganzen Leben ließ sie sich nur zweimal photographieren. Auf diese übergroße Bescheidenheit ist es zurückzuführen, daß bisher keine Biographie der Marlitt geschrieben werden konnte, die uns Einblick in ihre innere Entwicklung, in ihr Privatleben gewährte.

Zu ihren Lebzeiten konnte natürlich keine Rede davon sein; was damals über sie gedruckt wurde, ging über die äußerlichsten Mitteilungen nicht hinaus. Aber auch die Biographie, welche ihr Bruder, der Oberlehrer Alfred John, schrieb, und die den zehnten Band der Gesamtausgabe ihrer Werke abschließt,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0144.jpg&oldid=- (Version vom 20.5.2020)