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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Bis zu ihrem zwölften Jahre, so erzählt uns Frau Ida John nach Familienerinnerungen, verstand sie nicht, ruhig zu gehen. Immer hüpfend und trällernd, stets umherspähend, „ob nicht etwas käm’“, brachte sie die gute Mutter manchmal in Zorn, wenn sie kurz vor Mittag schnell noch etwas zum Essen Nötiges einholen sollte und dabei die Zeit vertändelte oder gar etwa die Kaffeebohnen aus der Tüte rinnen ließ.

Eugenie hatte eben immer an andere wichtige Dinge zu denken: ob wohl auch eine vergessene Nonne in dem Kloster neben der Liebfrauenkirche auftauchen könne? oder ob der längst vermauerte unterirdische Gang in ihres Großvaters Weinkeller wirklich die zwölf Apostel in Silber verberge? So oft es anging, packte sie ihren nie fertigwerdenden Strickstrumpf und ein Stück Schwarzbrot ein und ging auf die Wanderschaft: in die Einsamkeit entlegener Gärten, nicht mehr benutzter Gartenhäuser oder in den Wald und hielt Zwiesprach mit Steinen, Bäumen und Tieren. Oder sie fuhr ihr jüngstes Brüderchen Max langsam und vorsichtig in den Alleen umher, bedeckte den kleinen Wagen mit grünen Lindenzweigen und sang ihm selbstgedichtete und selbstkomponierte Lieder vor.

Am liebsten wandelte sie zwischen den Grabdenkmälern des Friedhofs umher und bemühte sich, die Inschriften zu entziffern. Auf solch einsamen Wanderungen machte sie mitunter merkwürdige Entdeckungen. So fand sie Zutritt zu vermauerten Räumen, wo man vergilbte Papiere oder verrostete Eisenstücke aufbewahrte. Wo es was zu schauen gab: Hochzeit oder Begräbnis, war das phantastische Mädchen gleich dabei, und dann konnte sie im Kreise von Geschwistern und Gespielinnen beim Mondenschein unter irgend einem Thorbogen sitzen und ihnen lange Geschichten von alten verfallenen Schlössern, vergrabenen Schätzen, Rittern und Elfen und Zwergen erzählen, bis es Schlafenszeit ward.

Früh trat auch schon ihre musikalische Begabung zu Tage. Sonnabends war Singstunde. Da pflegten sich die Schüler der anderen Schulen, Bürgerfrauen und Bauern vor dem Schulgebäude aufzustellen, um die „kleine John“ singen zu hören: ihre glockenhelle Stimme tönte aus dem ganzen Chor hervor …

So wirkte die frische Kraft der Jugend dem Druck der Not entgegen. Aber die traurigen Verhältnisse in der Familie John wirkten doch auch auf das kindliche Gemüt ein. Herabgekommener Wohlstand wird immer schmerzlicher als ererbte Not empfunden. Eugeniens Mutter, so lieb sie ihren Gatten hatte, verschmerzte nie das Leid über ihr enttäuschtes Leben. Sie litt zwar still, aber doch sichtbar. Sie erlebte nicht mehr den glänzenden Glückswechsel in ihrem Hause, denn sie starb schon am 31. August 1853. Der Vergleich mit dem großväterlichen Hause mußte daher immer schmerzliche Betrachtungen erregen.

Von dieser Jugendzeit an setzte sich das eigentümliche Mißtrauen, der Stolz verschämter Armut in Eugenie fest, der sie später noch zuweilen unliebenswürdig erscheinen ließ. Aber schon damals auch wurde der Stachel des Ehrgeizes in ihr geschärft, der sie zu rastloser Arbeit trieb und frühzeitig auf die Notwendigkeit eines Broterwerbs hinwies. Auch zur Gicht, unter der Eugenie und ihre Brüder später so viel leiden sollten, hatten diese Jugendjahre in der feuchten Gartenwohnung den Keim gelegt.

Indes ward es bald klar, daß dieses frische und phantasiereiche Mädchen zu einem höheren Berufe erzogen werden mußte.

Ihre schöne Stimme und ihr gutes musikalisches Gehör fanden am Kantor Stade, dem Singlehrer der Arnstädter Schule, einen verständnisvollen Gönner. „Sie hat Millionen in ihrer Kehle,“ versicherte der Herr Kantor, der Eugenie schon in Konzerten seines heimischen Singvereins öffentlich auftreten ließ. „Ihre künstlerische Ausbildung muß möglich gemacht werden.“ Damals war die Blütezeit der Primadonnen und Virtuosen in Deutschland. Warum sollte nicht Vater John hoffen dürfen, daß das an ihm vorbeigegangene Glück sich durch die Gesangskunst seiner Tochter einfangen ließe? … Da entschloß er sich zu einer Eingabe an die als großherzige Fördrerin der Künste und Wissenschaften allgemein verehrte junge Landesmutter, die Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen: sie möchte sich seiner als sehr begabt anerkannten Tochter annehmen. In der That berücksichtigte die Fürstin das Gesuch in auffallend kurzer Zeit und entsandte den Bassisten Krieg vom Hoftheater in Sondershausen nach Arnstadt zur Prüfung des gerühmten Singvogels.

„Auf einem Spinett,“ so erzählt Eugeniens Bruder, „schlug er einzelne Töne an, die sie mit voller Kraft nachsingen mußte – wie erstaunt fuhr da der Examinator herum: ‚Man meint, eine solche Fülle käme eher aus diesem mächtigen Ofen als aus einer so zierlichen Figur‘, sagte er. Damit war der heiße Wunsch der Eltern erfüllt; hinfort stand die Tochter unter dem Schutze einer gütigen Hand – und ,nun muß sich alles, alles wenden!‘“


2.

Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen war eine sehr interessante Persönlichkeit, die nur die engen Verhältnisse ihres Ländchens und widrige Schicksale daran gehindert haben, zu größerer Bedeutung zu gelangen. Eine Tochter des Fürsten Friedrich August Karl zu Hohenlohe-Oehringen, kam sie am 3. Juli 1814 zur Welt und trat, mehr dem väterlichen Gebot, als innerer Neigung gehorchend, mit achtzehn Jahren in die Ehe mit dem Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen. Mehrere Kinder entsproßten dieser schmerzensreichen Verbindung. Die fehlende Liebe stellte sich auch später nicht ein. 1847 wurde das gelockerte Band der Ehe in aller Form getrennt, angeblich darum, weil die Fürstin zu viel Geld verschwendete. Sie hatte allerdings die wahrhaft fürstliche Lust am Schenken und Spenden.

Ihr schwebte vor, in ihrem kleinen Sondershausen so etwas wie ein kleines Ferrara zu schaffen. Sie unterstützte Künstler und Gelehrte, zog sie in ihre Umgebung, und dem kleinen Hoftheater in Sondershausen widmete sie ihre besondere Neigung, denn sie war auch selbst dichterisch begabt. Gelegenheitsverse von Geist und Anmut flossen ihr leicht aus der Feder; ihre Briefe sind von echt weiblichem Esprit; auch die kleinsten geschäftlichen Aufträge und Mitteilungen schrieb sie in einem persönlichen Stil. Unter dem Pseudonym M. Dornheim ist die Fürstin mit lyrischen Gedichten (in Anthologien) und 1857 mit einem Drama in Versen, „Jadwiga, Königin von Polen“, in die Oeffentlichkeit getreten (Stuttgart, Hallberger). Das Schauspiel hat bezeichnenderweise den Konflikt einer Königstochter zwischen Neigung und politischer Pflicht zum Thema. Jadwiga bringt aus Frömmigkeit das Opfer ihrer Liebe zu ihrem Jugendfreunde Wilhelm von Oesterreich; weil Jagiello, der Großfürst von Litauen, der um sie wirbt und vom Volke unterstützt wird, verspricht, mit seinem Stamme zum Christentum überzutreten, wenn er Jadwigas Hand erhält.

Die lyrischen Gedichte der Fürstin ragen über den landläufigen Dilettantismus hinaus … Jedenfalls konnte eine Frau mit so edlen geistigen Interessen an den Aeußerlichkeiten des Hoflebens kein Genüge finden. Ueber die Vorurteile ihres Standes war sie erhaben. Gewicht auf ihre Würde legte sie erst in den Jahren ihres Alters und ihrer Vereinsamung. Mit ihrer außerordentlichen Güte wäre sie bei einem ungestörten häuslichen Glück eine wahre Landesmutter geworden, sich und dem Fürstentume zum Heile. Doch sollte ihre Güte gerade von Menschen mißbraucht werden, denen man es am allerwenigsten zugetraut hätte, und eine Fülle von Leiden sich über ihr zartes Haupt entladen. –

Als die sechzehnjährige Eugenie John in Arnstadt die Prüfung vor dem musikalischen Vertrauensmann der Fürstin so glücklich bestanden hatte, ließ die hohe Frau sie nach Sondershausen kommen und nahm ihr Schicksal in hochherzigster Weise in die Hand. Eugenie kam zu einer guten Familie in Pension, erhielt allgemeinen Bildungs- und speziellen Musikunterricht; sie wohnte sogar der französischen Sprachstunde bei, die den fürstlichen Kindern im Schlosse gegeben wurde. Das zierliche Lockenköpfchen des begabten Mädchens eroberte rasch das Herz der Fürstin, und es verging kein Geburtstag, kein Weihnachtsfest in den nächsten drei Jahren (1841–1844), die „Jenny“ (wie sie im Familienkreise und auch von der Fürstin genannt wurde) in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0147.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)