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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

eifrig ein, als sie vordem zurückhaltend gewesen war. „In der zweiten Etage ist eine Kammer frei. Das würde passen. Wenn Monsieur es wünscht, will ich sie ihm zeigen. Nur ist sie jetzt nicht in Ordnung, doch ich werde sie schon herrichten.“

„Monsieur kann sich in dieser Beziehung ganz auf Madame Joß verlassen,“ erklärte die junge Dame.

„Und der Preis für dieses Zimmer meines Dieners?“

Madame Joß sah das Fräulein an; dieses entgegnete rasch: „Dafür wird nichts besonders gerechnet.“

Detlev verbeugte sich. „Kann ich heute abend einziehen?“

„Heute?“ rief das junge Mädchen mit unwillkürlich abwehrender Bewegung und in so verstörtem Ton aus, daß Detlev betroffen einen Schritt zurücktrat.

„O, o, Monsieur! Das geht nicht!“ legte sich Madame Joß schnell ins Mittel. „Ich habe hier noch viel zu thun. Man muß das Parkett wichsen … es geht wirklich nicht! Morgen vielleicht. Oder wenn Monsieur sich wollte gedulden bis … bis Montag. Da ist gerade Monatsanfang. Das paßt besser!“

Es war, als ob sie sich eine Galgenfrist ausbäte, und da ein Blinder hätte sehen müssen, daß auch ihre Herrin diesen Aufschub sehnlichst wünschte, beschied sich Detlev. „Auch gut! Also Montag!“

Er zog seine Börse, um die Anzahlung zu entrichten, entnahm ihr ein Zehnmarkstück und reichte es mit einer kleinen Verbeugung der jungen Vermieterin. Allein diese machte keine Bewegung, um es zu nehmen. Statt ihrer nahm Madame Joß das Goldstück in Empfang.

Das blonde Mädchen richtete sich höher auf. „Alles, was Sie sonst noch wünschen, mein Herr. bitte ich mit Madame Joß zu besprechen! Guten Tag!“ Sie verneigte sich mit stolzer Höflichkeit und schritt zur Thüre hinaus.

Detlev sah ihr ein wenig befremdet nach.

„Madame ist sehr krank,“ sagte Frau Joß in entschuldigendem Ton, „und Mademoiselle Marguérite weicht nicht von ihrem Bett.“

„Wie heißen die Damen?“

„Dormans … Dormans-La Villette. Madame ist Witwe.“

„Seit kurzem erst?“

„O nein! Seit zwanzig Jahren!“

„Und sie hat nur die einzige Tochter?“

„Natürlich! Madame war überhaupt bloß ein halbes Jahr verheiratet. Mademoiselle ist ein nachgeborenes Kind …“

„Ich habe irgendwo gelesen, daß diese glücklicher werden als andere …“

„Wirklich?“ rief die Frau überrascht. „Das müßte dann noch kommen, denn bis jetzt hat das Glück ihr noch nicht viel gewährt. Soll ich Ihnen das Zimmerchen oben zeigen?“

Detlev willigte ein, weniger aus Begierde, das Zimmer zu sehen, als aus einem dunklen Bedürfnis, das Haus noch nicht zu verlassen … Frau Joß ging ihm also voran, ihn einmal um das andere Mal als „Herr Leutnant“ ansprechend. Detlev mußte lächeln über die veränderte Art der Frau. Die militärische Einquartierung schien ihr gar nicht so unwillkommen zu sein. Mit großer Beflissenheit machte sie ihm auch die Honneurs des Hauses und stellte ihm in Ermanglung der Bewohner wenigstens ihre Thüren vor. Die Wohnung nebenan gehörte den Fräulein Perraul, zwei alten Damen, die somit Detlevs Nachbarinnen zur Linken wurden. Im zweiten Stock wohnte vorn heraus und links ein Agent, der ein Nest voll Kinder hatte, rechts eine Näherin, und zwischen der Küche derselben und der Küche der größeren Wohnung befand sich eben das Zimmerchen, das sie dem Diener des Herrn Leutnants einräumen wollte. Detlev warf nur einen Blick in das mit Möbeln vollgepfropfte Gelaß. Es genügte seinem Zweck vollkommen. Sein Stefan wäre auch mit weniger zufrieden gewesen.

„Sie sind eine Metzerin?“ fragte Detlev im Hinabsteigen.

„Nein, ich bin aus Toul. Madame Dormans ist aus Nancy, aber mein Mann war ein Metzer von Geburt, und Herr Dormans desgleichen. Die Dormans sind eine alte Metzer Familie .... Der Herr Leutnant sind noch nicht lange in Metz? Wie gefällt es Ihnen hier?“

„Ich hoffe, es wird mir gefallen, wenn ich erst einmal eine Wohnung habe.“

„O, mit der Wohnung werden Sie wohl zufrieden sein!“ rief Madame Joß mit Ueberzeugung.

„Hm, aber man sieht nicht gern einen Deutschen in diesem Hause. Gestehen Sie nur!“

Die Frau lachte verlegen: „Mein Gott, der erste Schritt, der kostet Ueber… Ueber…“ der Schluß des Wortes fiel ihr nicht ein – „aber wenn Sie einmal zum Hause gehören, wird Ihnen niemand mehr etwas in den Weg legen. Man muß sich hineinfinden! Sie können ja nichts dafür. Also auf Montag, Herr Leutnant!“ Mit diesen etwas rätselhaften, von Detlev aber doch so ziemlich verstandenen Worten öffnete sie ihm das Hausthor und entließ ihn mit freundlichem Blick und Lächeln.

„Das klingt ja recht tröstlich!“ sagte sich Detlev mit innerer Belustigung. „Nun, wenigstens bin ich jetzt untergebracht! Es war Zeit!“

*      *      *

Vor einem quer über die Zimmerecke gestellten altertümlichen Schrank, dessen unterer Teil von geschweifter Form eine Kommode mit drei Schubladen bildete, während der mittlere, wenn man den schrägen Deckel aufklappte, sich als Schreibtisch benutzen ließ, saß Marguérite Dormans, ein Wirtschaftsbuch vor sich, in das sie einige Eintragungen machte.

Alt wie dieser Schrank war auch die übrige Einrichtung von dunklem, durch die Zeit geschwärztem und gewiß auch wurmstichigem Holz. Das sehr tiefe, aber nicht ebenso breite Zimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hofe gingen, war überhaupt ganz in düsteren Farben gehalten: dunkle Tapeten und Vorhänge und ebenso dunkle Polstermöbel ließen es wohl auch bei hellem Tageslicht nicht allzu freundlich aussehen. Obendrein aber war jetzt noch einer der beiden Fensterladen geschlossen, und durch das zweite Fenster fiel – es war spät am Nachmittag – nur eben so viel blasses Licht auf die Schreibplatte, als Marguérite bedurfte, um ihre Ziffern zu schreiben. Der Hintergrund des Zimmers blieb im Schatten, und man konnte kaum erkennen, daß dort im Alkoven, dessen Vorhang zurückgezogen war, eine breite Bettstelle stand, die ihn fast gänzlich ausfüllte. Erst beim Nähertreten hätte man bemerkt, daß unter dem dunkelroten, von dünnen Säulen getragenen Betthimmel eine hagere ältliche Frau lag, mit Zügen, die einmal schön gewesen sein mußten, jetzt aber so spitz geworden waren, daß sie selbst in der Dämmerung, die alle Linien verwischt, noch unvermindert scharf hervortraten.

Marguérite hatte ihre Eintragungen beendet und stützte nun in tiefem Sinnen die Ellbogen auf das Schreibpult.

Die Dämmerung wuchs und verschlang die letzte Spur von Helligkeit; da schreckte ein polterndes Geräusch über ihrem Haupt das junge Mädchen aus ihrem Brüten auf.

„Was ist?“ fragte eine matte und doch schrill klingende Stimme vom Bett her.

„Nichts, nichts, Mama,“ sagte Marguérite beruhigend. „Wohl die Kleinen des Agenten. Du weißt, sie sind unverbesserlich.“ Ihre Stimme klang nicht ganz unbefangen, denn sie sagte ja eine bewußte Unwahrheit. Diesmal beschuldigte sie die kleinen Lärmer mit Unrecht: was da oben rumorte, das war Madame Joß, die das kleine Zimmer für den Diener des deutschen Offiziers ausräumte.

„Marguérite!“ kam es wieder vom Bett her.

„Mama?“

„Du hast also die Zimmer vermietet?“

„Ja, Mama.“

„An wen?“

„Es ist ein … ein Beamter, Mama. Scheint Vermögen zu haben. Der Preis war ihm nicht zu hoch ...“

„Wo ist er angestellt?“

„Bei – bei der Regierung.“

„Bei der deutschen Regierung?“

„Ich weiß es nicht bestimmt, Mama. Vielleicht nicht bei der Regierung. Ein Deutscher ist es leider. Das konnte nicht vermieden werden. Er geht uns ja nichts an, Mama. Wir werden ihn nie sehen, nie …“

Wieder eine Pause. Oben polterte es heftig. Aus dem Stübchen wurde jetzt sicher der überzählige große Schrank entfernt, der so schwer war. Aber trotz dieses Geräusches vernahm Marguerite deutlich den tiefen Seufzer der Mutter, die sich schwer auf ihrem Lager umwendete.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0155.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2020)