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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

selbst im kurzen Kleide gewesen war. Dazu noch der sich aufdrängende Vergleich von einst und jetzt, denn Arnstadt war ja auch nicht stehen geblieben und modernisierte sich. Durch das Solbad, das Ende der sechziger Jahre darin errichtet wurde, kam es als Sommerfrische in Mode und wurde viel besucht. Mit dem Gemüt hing die Dichterin am Alten, mit dem Geist aber am Neuen, am Fortschritt. Alte Gebäude und alte Menschen, zumal Leute aus dem Volke, verklärt sie überall mit ihrer Poesie. Der Kontrast allein war schon Poesie; das ganze Zeitalter des Uebergangs, zu dem die Marlitt gehört, hat diese Poesie empfunden. Wie schön hat Hans Hopfen sie im „Alten Praktikanten“ dargestellt! … Die Poesie stimmungsvoller Kontraste finden wir in allen Marlittschen Romanen. Am schönsten in der „Goldelse“, wo sich die verarmte Familie in dem ruinenhaften Schlosse einnistet und unter Trümmern neues Leben bereitet. Dann im „Geheimnis der alten Mamsell“: das alte Hellwigsche Haus, die Wohnung des alten Fräuleins. Und so weiter fort, bis auf den farbenprächtigen Kontrast in der „Zweiten Frau“, wo sich neben dem alten Schlosse im französischen Stile das indische Gartenhaus wie ein tropisches Märchen im kalten Norden erhebt …

Wir sind mit Erwähnung dieses Romanes dem Gang der Marlittschen Lebensgeschichte etwas vorangeeilt. Aber wir haben doch nur scheinbar einen Sprung gemacht. Unsere Dichterin trat nämlich, sobald sie die Feuertaufe durch den Druck der „Zwölf Apostel“ erhalten hatte, als fertiger Schriftsteller in der Oeffentlichkeit auf.

Als sie diese Erzählung an die „Gartenlaube“ abgeschickt hatte, lag schon die „Goldelse“ druckreif im Schreibtisch, und diese ihre erste große Schöpfung, die nach dem Urteil Friedrich Kreyßigs (Vorlesungen über den Deutschen Roman der Gegenwart. Berlin, 1871. S. 295) „selbst neben Immermanns köstlicher Lisbeth (Oberhof) nicht zu viel verlieren dürfte“, hat die Marlitt später nicht übertroffen. Sie hat noch Fortschritte in der Technik, im Stil, in der Charakteristik gemacht, sie lernte die Farben noch leuchtender mischen, Uebergänge schaffen, nicht bloß Engel und Teufel ohne Vermittlung einander gegenüber zu stellen; sie wurde knapper und kräftiger im Stil, ihre Kunst zu spannen steigerte sich im Laufe der Jahre – allein die erste Frische hat einen besonderen Zauber, wie Spielhagen seine „Problematischen Naturen“, Marie Ebner-Eschenbach ihre „Božena“ später auch nicht übertroffen haben. Bei der Marlitt kam noch überdies hinzu, daß sie durch ihr körperliches Schicksal auf das poetische Ausmünzen der Erinnerungen und bisher erworbenen Eindrücke eingeschränkt war. Vom Jahre 1863, wo sie nach Arnstadt zurückkam, bis an ihr Lebensende griffen keine neuen Erlebnisse in ihre dichterische Persönlichkeit ein, die ihre Muse auf neue Bahnen geführt hätten. Ihre Entwicklung war abgeschlossen und vollendet.

Die Verbindung mit Ernst Keils „Gartenlaube“, die für die Dichterin und ihren Verleger so segensreich werden sollte, brachte einen völligen Umschwung in Eugeniens Verhältnissen hervor. Beiläufig bemerkt, hatte sie selbst nicht den Mut gefunden, ihr Manuskript der angesehenen Zeitschrift zuzuschicken; sondern ihr Bruder Alfred hatte sich desselben mit Gewalt bemächtigt und es auf eigene Faust unter dem von der Schwester angenommenen Pseudonym nach Leipzig geschickt. Keil war einer jener seltenen Herausgeber, die ihrem Blatte das Gepräge ihrer Persönlichkeit aufzudrücken und die Mitarbeiter daran zu fesseln verstehen. Die volkstümliche Begabung E. Marlitts hatte er sofort herausgespürt und richtig geschätzt. Als ihre ersten zwei Beiträge – „Zwölf Apostel“ und „Goldelse“ – gefielen, erhöhte er aus eigenem Antriebe das Honorar der Dichterin auf fast das Doppelte und sicherte ihr ein Jahresgehalt von 800 Thalern zu. Der Erfolg der „Goldelse“, die im ersten Halbjahr 1866 abgedruckt wurde, war aber auch in der That durchschlagend.

Die Marlitt arbeitete nun mit einer Schaffensfreude und einem Fleiße, die an sich bewundernswert sind. Denn kaum war die „Goldelse“ zu Ende gedruckt, so konnte schon die thüringische Erzählung „Blaubart“ erscheinen, und im folgenden Jahre konnte der zweite große Roman „Das Geheimnis der alten Mamsell“ – die Geschichte des verwaisten Cirkusreiterkindes Felicitas – veröffentlicht werden, deren Wirkung den Erfolg der „Goldelse“ noch weit übertraf. Im Februar 1868 lag schon die Buchausgabe dieses Romans vor. Und so ging das in den nächsten Jahren fort: 1869 die „Reichsgräfin Gisela“, 1870 die „Thüringer Erzählungen“, 1871 „Das Heideprinzeßchen“, 1874 „Die zweite Frau“ … Hoch und nieder, Hausfrau und Stubenmagd lasen Marlitts Romane, ins Französische, Englische, Italienische, Russische, Polnische, Spanische wurden sie übersetzt, drüben selbst, in China und Japan wurden sie begehrt und nachgedruckt, und was nur mit den berühmtesten Erzählungen Auerbachs oder der Currer Bell geschehen war: sie wurden auch für die Bühne bearbeitet. Die Marlitt hatte ja den Dramatisierern vorgearbeitet, die Höhepunkte ihrer Erzählungen sind immer dramatisch bewegte Scenen. Aber eine Freude an den rohen Dramatisierungen hatte sie nicht. Sie konnte sich aber damals noch nicht gegen sie schützen.

Diese Erfolge lassen sich nur begreifen, wenn man sich die Stimmung jener Jahre unmittelbar vor und nach der Gründung des Reiches vergegenwärtigt, aus der heraus Eugenie John mit naiver Unmittelbarkeit ihre Erzählungen schrieb. Sie war sozusagen identisch mit dem Zeitgeist, sie war ihm nicht vorausgeeilt, aber auch nicht hinter ihm zurückgeblieben. Man denke beispielsweise an die Frauenfrage, die damals noch in ihren Anfängen war. Dem zunächst noch unklaren Idealismus jener Zeit, der heutzutage von vielen Seiten angegriffen wird, entsprach das Ideal der Marlittschen Frauendichtung in vollkommenster Weise. Sie stellte den Kampf der Geschlechter noch nicht als einen Lohnkampf oder als einen Kampf um politische oder soziale Rechte dar, sondern in rein idealistischer Weise als einen Kampf um die Anerkennung der weiblichen Persönlichkeit, z. B. in der „Zweiten Frau“: die Frau soll nicht mehr als „eine Sache“ betrachtet werden. Weiter als bis zu dieser gewiß bescheidenen und gerechten Forderung war das allgemeine Bewußtsein der deutschen Frauenwelt auch nicht gekommen.

Zur selben Zeit (1865), als E. Marlitt in der Stille ihrer Arnstädter Zurückgezogenheit an der „Goldelse“ schrieb, tagte in Leipzig der erste Allgemeine deutsche Frauenkongreß. Die denkwürdige Resolution, die er annahm: „Wir erklären die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Gesellschaft sein soll, für eine Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts, nehmen dagegen das Recht der Arbeit in Anspruch und halten es für notwendig, daß alle der weiblichen Arbeit im Wege stehenden Hindernisse entfernt werden“ – diese Resolution, die sich von den modernen politischen Forderungen der Frauenbewegung noch recht fern hält, hätte die Marlitt sehr wohl mit unterzeichnen können. Für das Recht auf Arbeit – und nicht bloß der Frauen – trat sie überall ein, am nachdrücklichsten wohl in der „Reichsgräfin Gisela“. Die Partei der Armen hat sie immer ergriffen. Die Schilderungen des Volkes bilden in allen ihren Romanen die frischesten und muntersten Partien. Sie lebte in ihrer Zeit, mit ihrer Zeit und für ihre Zeit.

Aber freilich dürfen auch ihre Schwächen nicht verhüllt werden, die wesentlich künstlerischer Art waren. Zu sehr schrieb sie ihre Romane auf den äußeren Effekt der Spannung. Die Charaktere entwickeln sich nicht immer von innen heraus; so wie sie im Anfang sind, bleiben sie auch zumeist im Verlauf der Geschichte: nur das eine Paar von Mann und Weib, das sich anfänglich mißversteht oder trotzig meidet, macht den bekannten Prozeß der Klärung und des Weicherwerdens durch. Auch hat die Marlitt nicht immer die volle Kraft der Individualisierung. Doch über diese Schwächen, die zumeist aller volkstümlichen Kunst anhängen, reißt sie den Leser durch ihre Kraft zu spannen hinweg. Sie läßt ihn nicht aus, mag er noch so viele Bedenken haben. Und sind auch die Zeichnungen der Charaktere nicht innerlich genug, so sind sie doch so bestimmt und klar, daß die Leser immer eine Freude haben, wenn die sympathischen Figuren auf den Plan treten. Menschen ihres thüringer Volkes läßt die Marlitt immer so frisch und unterhaltend reden, daß man wohl begreifen kann, warum sich das Volk selbst an diesen treuen Spiegelbildern seiner Art nicht satt lesen konnte. Diese Wirkung werden die Schriften der Marlitt auch schwerlich jemals einbüßen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0188.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2023)