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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Rixdorf, Preußens jüngste Stadt.

Von Gundakkar Klaussen.
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Die gewaltige Entwicklung ins Große, welche Berlin durchgemacht hat, seitdem es aus der Residenz der preußischen Könige zur Reichshauptstadt geworden ist, hat naturgemäß auch auf die umliegenden Dörfer einen tiefgehenden Einfluß ausgeübt. Wo früher Ackerbauer und Gärtner vor den Thoren wohnten, da stehen jetzt Wohnpaläste und Fabriken in unmittelbarer Verbindung mit der eigentlichen Stadt. Der Riesenpolyp, der seine Arme von Jahr zu Jahr weiter ausstreckte, hat alles, was in seiner Nähe lag, sich angegliedert. Lange hat man geschwankt, ob man die Vororte, welche immer noch Dörfer hießen, obwohl sie es längst schon nicht mehr waren, in Berlin eingemeinden sollte.

Die heiß umstrittene Frage scheint jetzt endgültig verneint zu sein. Die naturgemäße Folge war, daß man jenen merkwürdigen Zwitterwesen die Stellung gab, die ihnen ihrem Werdegang nach gebührte. Konnten sie nicht Stadtteile sein, so mußten sie selbständige Städte werden. So erhielt Charlottenburg Stadtrecht, ihm folgte später Schöneberg. Diese beiden haben durch die Gunst ihrer Lage das beste Teil erhalten. Sie bilden, wenn auch nicht rechtlich, so doch thatsächlich, mit dem Westen Berlins eine zusammenhängende Einheit, und der Westen ist beinahe ausschließlich der Sitz der kapitalkräftigen Bevölkerung geworden. Die Arbeit Berlins, und es wird viel und hart gearbeitet an der Spree, obwohl der flüchtig durchreisende Besucher der Friedrichsstadt nicht viel davon sieht, wird hauptsächlich im Norden, Osten und Süden geleistet. So ist auch Rixdorf, „malerisch an den südlichen Ausläufern des Kreuzberges gelegen“, wie die Rixdorfer selbst mit echt märkischer, gemütlicher Selbstverspottung sagen, aus einem Bauerndorf zu einer Industrie- und Arbeiterstadt geworden. Der 1. April 1899 war der Geburtstag von Preußens jüngster Stadt.

Fährt man zum Halleschen Thore hinaus die lange Blücherstraße hinunter, so kommt man schließlich auf den Kaiser Friedrich-Platz, den die schöne neue evangelische Garnisonskirche schmückt. Hier war bis vor kurzem Berlin zu Ende und „die Heide“ begann, jene „Hasenheide“, die zu unserer Väter Zeiten das Ziel vergnügungslustiger Landpartien war. Heute ist von dem nicht eben großen Stück Wald eigentlich nur noch ein Stück Naturgarten übrig geblieben, über dem die Berliner Turnerschaft ihre schützende Hand hält. Steht doch hier das Denkmal des Turnvaters Jahn, der unter diesen Bäumen seine Schüler in der edlen Kunst der Leibesübungen zu unterweisen pflegte. Sonst hat „die Heide“ großen Mietskasernen Platz gemacht. Besser aber als sie haben sich aus vergangenen Tagen die Vergnügungslokale hier gehalten. Sie sind geblieben mit ihren Karussells, Würfelbuden, russischen Schaukeln und andern Volksbelustigungen, die Sonntags ihr zahlreiches Publikum von Soldaten und „Mädchen dienenden Standes“ finden. Dies sind die Freuden, von denen es in dem herrlichen neueren Volksliede, dem unverwüstlichen „Rixdorfer“, so ungemein sinnig auf gut Berlinisch heißt:

„Uff den Festdag frei ick mir,
Mutter, det is mein Pläsir;
Mutter, kiek dir fleißig um,
Seh mal bloß det Publikum!“

So singt der Sänger von dieser Gegend – nicht gerade sehr salonfähig, aber der Geist des Ortes ist ihm wohl vertraut.

Wo sich die Berliner Straße mit dem Cottbuserdamm trifft, liegt, von der großstädtischen Umgebung fast erdrückt, in kleiner Bescheidenheit noch ganz so wie ehemals der alte Rollkrug. Hier gabelte sich in früheren Zeiten die Dresdner Heerstraße. Links ging es über Rixdorf nach Köpenick, rechts über Britz nach Mittenwalde und weiter nach Sachsen. Hier läuft auch die Grenze zwischen Rixdorfer und Berliner Gebiet. Aber wer es nicht weiß, würde nicht auf den Gedanken kommen: hüben und drüben ist alles gleich. Die Berliner Straße setzt sich jenseits fort und bewahrt durchaus ihr Aussehen. Häuser und Menschen sind von derselben Art, dieselben durch Elektrizität oder Pferdekraft betriebenen Straßenbahnen begleiten uns. Nur hin und wieder, wenn zwischen den Gebäuden eine Lücke klafft, sieht man, daß die Straße eine Strecke weit über freies Feld führt. Links blickt man auf die weiten Flächen der Cöllnischen Wiesen, auf denen hier und da eine „Laubenstadt“ steht. Diese Laubenstädte sind eine Eigentümlichkeit der Berliner Umgegend. Kleine Leute pachten sich ein Stückchen Ackerland, auf dem sie Kartoffeln, Gartenfrüchte und bescheidene Blumen ziehen. Jeder hat auf seiner Scholle eine Bretterbude, mit schmeichelnder Phantasie als Laube bezeichnet, einer haust dicht neben dem andern, es ist eine ganze Kolonie. Sommers nach Feierabend oder an arbeitsfreien Sonntagen zieht die ganze Familie hinaus mit Kind und Kegel, da wird im Garten geschafft, auch wohl ein Tänzchen im Freien arrangiert zu den melodischen Klängen der Ziehharmonika. Jeder hat auf seiner Burg eine Fahne, die besonders wichtig ist, wenn die Kolonie ihr Erntefest feiert. Dann giebt’s ein Jubeln und Singen, die Freude, dem großen Häusermeer auf ein paar Stunden entronnen zu sein, läßt das bescheidene Vergnügen im märkischen Sande doppelt schön erscheinen. Rechts von der Straße ziehen sich die Rollberge hin, „mindestens“ 15 bis 20 Meter hoch. Allmählich fangen dichtbebaute Querstraßen an, sich diese Berge hinaufzuziehen. Das ist Neu-Rixdorf. Wir kommen an dem stattlichen Backsteinbau des neuen Amtshauses vorüber, dann an dem Kriegerdenkmal, einer adlergeschmückten Säule, die man den Helden von 1864, 1866 und 1870/71 in Dankbarkeit gesetzt hat. Bald grüßt uns auch die neue evangelische Kirche, die katholische Kirche wird sichtbar, auf der Höhe ragt der Wasserturm auf, Fabrikschornsteine hier und dort zeugen von emsiger Thätigkeit, der Bahnhof der Ringbahn taucht auf – wir sehen, wir sind in einer betriebsamen Stadt und in keiner kleinen dazu.

Von dem alten Rixdorf sind nur noch wenige Reste übrig geblieben. Wenn man sie aufmerksam sucht, findet man sie am heutigen Richardsplatz. Hierhin ist die Weltstadtkultur noch nicht so recht vorgedrungen. Hier braucht es nicht einmal eine allzu lebendige Einbildungskraft, und man kann sich ganz wohl ein Bild der Vergangenheit zurückrufen. Noch ist der ehemalige Dorfanger mit seinen stattlichen Linden gar wohl zu erkennen. Die Schmiede, die heute noch mitten darauf steht, hat gewiß schon den Dörflern gedient. Die kleine Kirche im Winkel dürfte, wenn auch nicht in dem barocken Schieferturm, so doch wenigstens in ihren massiven Grundmauern sehr alt sein. Hinter dem einstöckigen niedrigen Pfarrhaus ist noch eine große Oekonomie zu bemerken, wie sich denn überhaupt in diesem Teil noch viel Landwirtschaftliches erhalten hat. Wahrhaft alte Gebäude sind aber außer der Kirche nicht mehr zu finden, denn das Dorf wurde in unserm Jahrhundert durch drei verzehrende Feuersbrünste heimgesucht. Das ist um so mehr zu bedauern, als Rixdorfs Anfänge tief, tief in der Vergangenheit wurzeln.

Nach Urnenfunden, die man auf der Feldmark gemacht hat, nimmt man an, daß hier schon in vorgeschichtlicher Zeit eine germanische Ansiedlung gewesen ist. Als dann im Strome der Völkerwanderung die Semnonen westwärts zogen und von Osten her die Slaven nachdrängten, dürften Wenden sich in der verlassenen Stätte eingerichtet haben. Aus den fünf Jahrhunderten, welche die deutsche Kolonisation gebrauchte, um die Ostmarken den Slaven wieder zu entreißen, ist das Jahr 1232 bemerkenswert. Damals kam durch Vertrag zwischen Herzog Borwin I von Pommern und den Markgrafen Joachim I und Otto III Teltow und Barnim und damit auch wohl Rixdorf an Brandenburg. Geschichtlich durchaus sicher und aus Quellen zu belegen ist es zwar nicht, daß der Ort damals schon bestand, aber es ist anzunehmen. Urkundlich kommt er uns zum erstenmal vor am 26. Juni 1360. Dies Datum ist zugleich der Geburtstag des Dorfes, wie der 1. April 1899 der der Stadt ist; denn durch diese älteste Urkunde spricht der Johanniterorden die Umwandlung seines Hofes „Richarsdorp“ in ein Dorf mit 25 Hufen aus. Es bestand also um diese Zeit schon ein größerer Hof, vielleicht auch eine Verbindung von mehreren Höfen, denen damals Dorfgerechtsame verliehen wurden. Die nächste geschichtliche Erwähnung des Dorfes geschieht in dem Landbuche der Mark

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0246.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)