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Schneewächten.

Von Theodor Wundt.0 Mit Illustration von R. Reschreiter auf Seite 381.


Ein klarer Tag im Gebirge. Die Sonne scheint, prächtig heben sich die glitzernden Schneeriesen von dem tiefblauen Himmel ab und kein Luftzug geht. Das Wetter könnte nicht schöner sein. Fröhlich strömen die Sommerfrischler hinaus nach den benachbarten Almen und Wäldern, den Tag zu genießen, und doch schütteln die Führer bedenklich die Köpfe, wenn man ihnen eine größere, schwierige Tour vorschlägt. Sie deuten hinauf nach den Gipfeln, und bei näherer Betrachtung sehen wir, wie sich dort leichte Wölklein erheben. In allen Formen tanzen sie auf den eisigen Kämmen, bald nach rechts, bald nach links sich neigend, bald wie Rauchwolken gerade in die Höhe steigend. Man möchte meinen, es sei aufgewirbelter Staub, wenn sich dieses Attribut unseres mühseligen Lebens hier unten in jene luftigen Höhen verirren könnte. In Wirklichkeit ist es Schnee, mit dem der Wind sein Spiel treibt, denn so wenig wir auch davon verspüren, so herrscht doch jetzt dort oben ein eisiger Sturm und die Führer wissen sehr wohl, weshalb sie vor einer Besteigung warnen. Auch der Wetterfesteste, der den Mut nicht so leicht verliert und seine Kaltblütigkeit zu wahren gewöhnt ist, kann demselben leicht zum Opfer fallen. Der Ausblick ist ihm in dem wirbelnden Schnee beinahe unmöglich, die Sinne werden verwirrt, der schneidende Wind geht bis auf die Knochen und ein einziger falscher Schritt kann den Tod bedeuten. Sind doch gerade diese Stellen, wo lokale Luftströmungen zu herrschen pflegen, für den Bergsteiger besonders gefährlich. Die Gletscherspalten bedecken sich mit trügerischen Hüllen, an den Vorsprüngen steiler Hänge finden lawinengefährliche Anhäufungen statt und auf den Kämmen setzt sich Schneeflocke um Schneeflocke an und bildet so mit der Zeit gewaltige Schnee- und Eismassen, die weit über die unter ihnen liegenden Hänge hinausragen und dem Fuße keinen genügenden Halt gewähren.

Diese „Schneewächten“, welche sich auf unserem Bilde in besonders schöner charakteristischer Gestaltung zeigen, gehören zu den interessantesten Erscheinungen der eigentlichen Hochalpenwelt.

Man ist lange der Ansicht gewesen, daß die Schönheit des Hochgebirges ausschließlich in der imposanten Größe und Gestalt der Berge, in dem ungehinderten Ausblick bis in die weitesten Fernen bestehe, und mancher hat sich deshalb damit begnügt, diese Welt in Schnee und Eis von unten zu betrachten oder von einem leicht zugänglichen, erhöhten Standpunkte aus das Auge über diese mächtigen Gebilde hinweg schweifen zu lassen. Mit den immer zahlreicher werdenden Besteigungen aber und der damit verbundenen intimeren Kenntnis des Hochgebirges hat sich auch mehr und mehr der Sinn für die großartige Pracht der Einzelheiten der Gletscher- und Eiswelt ausgebildet. Was der Bergsteiger, der mit offenem Auge die Schönheiten des von ihm durchschrittenen Weges betrachtet, alles sehen kann, das ist unendlich mannigfaltig. Auch wenn der Ausblick oft auf langen Strecken derselbe bleibt, so erhält er doch durch die nächste Umgebung, durch mächtige Felszacken, Spalten und Klüfte ein beständig wechselndes Gepräge, ja sogar die so verpönten Nebel, welche dieses und jenes verdecken, anderes hervorheben und, hin und her huschend, bald hier, bald dort ihren geheimnisvollen Schleier lüften, verleihen der Landschaft oft eine eigene Schönheit, die sie völlig anders erscheinen läßt als bei klarem Wetter. Gerade darin aber, in der Großartigkeit der Details und dem beständigen Wechsel der Erscheinungen liegt einer der Hauptreize des Bergsteigens, und man kann sagen, daß für den aufmerksamen Beobachter zwei Besteigungen, auch wenn sie genau dieselbe Route verfolgen, doch immer verschiedene Eindrücke hervorrufen.

So erhält auf unserem Bilde der Blick in die Ferne, welcher an sich nichts Außergewöhnliches bietet, erst durch die über uns hängenden Wächten mit ihren gewaltigen Schneemassen und riesigen Eiszapfen seine besondere eigenartige Schönheit. Und wenn wir bei einer zweiten Besteigung genötigt sein würden, auch nur zehn Schritte weiter rechts oder links die stets wechselnde Eiswand zu überschreiten, so wäre der Blick wieder ein völlig anderer.

Das Ueberschreiten einer solchen Wächte von unten gehört zu den schwierigsten Unternehmungen im Hochgebirge, und unsere Bergsteiger werden wohl schon lange fragend nach der eisgekrönten Höhe hinaufgesehen haben, ob es ihnen gelingen werde, dieselbe zu forcieren, oder ob sie nicht im letzten Augenblick auf ein unüberwindliches Hindernis stoßen werden. Nun, die Verhältnisse liegen so günstig wie nur möglich. Nicht allein zeigt der überhängende Schnee eine breite Lücke, welche ohne besondere Schwierigkeiten erklommen werden kann, sondern der sichere Standpunkt auf den Felsen ermöglicht es auch den zunächst unten Zurückbleibenden, ihrem vorausgehenden Genossen mit dem um einen Felsblock geschlungenen Seil Schutz zu gewähren. Sollte er, was nach Lage der Dinge nicht wahrscheinlich erscheint, zum Sturze kommen, so würde ihn das Seil sicher halten. Freilich ist dies keineswegs die einzige Gefahr, welche ihm droht. Mit sicherem Blick muß er die Mächtigkeit des Eises und seine schwachen Stellen erkennen, mit Kraft und Geschick seine Stufen schlagen, damit nicht größere Teile der Wächte auf ihn einstürzen. Welche Folgen daraus entstehen, ist nur zu klar. So kam einst der Grindelwalder Führer Christian Jnäbnit an einer solchen Stelle zu Fall.

Jeder, der die „Jungfrau“ von dem Aletschgletscher aus bestiegen hat, kennt jene Schneewächte, welche sich über den Rotthalsattel hinzieht und denselben wie eine Barriere versperrt. Unmittelbar unter derselben war Jnäbnit mit seinem Touristen und einem zweiten Führer angekommen und man hatte in der Wächte ein tunnelartiges Loch vorgefunden, welches eine frühere Partie eingeschlagen hatte. Dasselbe war zum Teil wieder zugeschneit und Jnäbnit machte sich nun daran, den Neuschnee mit dem Pickel auszuhauen, um so das Durchschreiten zu ermöglichen. „Wir trauten der Sache nicht recht,“ erzählte er, „aber umkehren thut man doch auch nicht gerne. Wie ich nun mit dem Pickel in die Schneehöhle hineinhieb, fiel eine schreckliche Masse Schnee, die von dem Rotthalhorn bis hinüber zu der ‚Jungfrau‘ reichte, auf uns herab, schlug uns zu Boden und riß uns mit sich in die Tiefe. Erst rutschten wir ein Stück weit, dann stürzten wir etwa 70 Fuß tief senkrecht in den Bergschrund hinunter. Die beiden andern fielen auf Schnee und kamen mit dem Schrecken davon!“ Jnäbnit selbst aber erlitt eine schwere Verletzung des Rückgrates, welche ihn Zeit seines Lebens zum Krüppel machte.

So liegen Glück und Gefahr, Freude und bitteres Weh oft unmittelbar nebeneinander im Hochgebirge, geeignet, den verständigen Bergsteiger zu mahnen, auch bei der kühnsten That, welche gewiß den Mann ziert, die Vorsicht nicht außer acht zu lassen und gegebenen Falls die Selbstüberwindung zu haben, von Unmöglichem oder Allzugefährlichem abzustehen.

Kehren wir wieder zu unserer Partie zurück! Hat sich der Vorausgehende erst auf die Höhe hinaufgearbeitet, so ist es für seine Genossen ein leichtes, ihm mit Hilfe des Seiles zu folgen, und jeder wird den Jubel verstehen, der dann dort oben herrschen wird, jene gehobene Stimmung, welche nicht allein an sich schon eine der schönsten Belohnungen des Bergsteigers bildet, sondern auch sein Herz für die Schönheiten des Ausblickes ganz besonders empfänglich und dankbar macht. Man muß das selbst erlebt haben, um es ganz verstehen zu können.

Freilich finden unsere Freunde vermutlich sofort neue Schwierigkeiten, denn der Marsch auf einer solchen Wächte entlang ist sehr gefährlich. Er verlangt die größte Sorgfalt und die genaueste Kenntnis der Verhältnisse. Oft deuten nur ganz geringe, kaum sichtbare Risse an, wie trügerisch der Boden ist, auf dem man sich befindet, und nur zu leicht werden die überhängenden Schneemassen losgetreten.

Nun, dem Mutigen lächelt das Glück.


Blätter und Blüten.


Velazquez. (Zu dem Bilde S. 357 und unserer Kunstbeilage.) Die Blüte der Malerei im 17. Jahrhundert, welche in Holland durch Rembrandt, in Belgien durch Rubens ihren höchsten Ausdruck fand, ward in Spanien durch Velazquez herbeigeführt. Mit berechtigtem Stolz wird nun dort im Juni d. J. der dreihundertste Geburtstag des großen Malers begangen, dessen Name am 6. Juni 1599 in das Taufregister der Pfarrkirche S. Pedro zu Sevilla eingetragen ward.

Don Diego Rodriguez de Silva Velazquez gehörte einem alten ritterlichen Geschlecht an; seine Eltern gaben ihm eine gute Erziehung und setzten seinem Wunsche, Maler zu werden, keinen Widerstand entgegen. Sein erster Lehrer war Francisco de Herrera, ein unbedeutender, dabei verdrossener Mann, bei dem es der Schüler nicht lange aushielt. Auch sein zweiter Lehrer, der kunstgelehrte Maler Francisco Pacheco, war von geringem Einfluß auf ihn; derselbe hielt ihn an, in der Nachahmung der großen italienischen Meister des vorausgegangenen Jahrhunderts die Meisterschaft zu erringen, während der junge Velazquez am liebsten nach der Natur zeichnete und malte. Seine ersten Bilder waren Studien nach der Wirklichkeit des Sevillaner Volkslebens. Doch blieb er Pachecos Schüler fünf Jahre, 1618 heiratete er dessen Tochter Juana. – Der Regierungswechsel, der 1621 den sechzehnjährigen Philipp IV auf den spanischen Königsthron brachte, veranlaßte Velazquez, nach Madrid zu gehen, um am dortigen Hofe sein Glück zu suchen. Er gewann hier die Gunst des mächtigen Grafen von Olivares, der später als Minister den jungen König völlig beherrschte, und gleich das erste Bild, das Velazquez für den König malte, ein Reiterbild desselben, befriedigte diesen dermaßen, daß er den jungen Künstler zum dauernden Aufenthalt in Madrid einlud. Seine förmliche Anstellung als Hofmaler erfolgte 1632; er erhielt zugleich ein Atelier im königlichen Schlosse, wo ihn der König, der ihn sehr liebgewann, fast täglich besuchte. Bald erregte seine Bevorzugung den Neid der Italiener Carduccio, Nardi und Caxesi, welche schon vor ihm den Rang von Hofmalern hatten. Da er andauernd als Bildnismaler beschäftigt war, sagten sie ihm nach, er könne nur Köpfe malen. Um Velazquez Gelegenheit zu geben, sich auch als Historienmaler zu zeigen, veranstaltete der König einen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0385.jpg&oldid=- (Version vom 21.4.2023)