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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

bestimmte Thätigkeit zu antworten, zu reagieren, wie man zu sagen pflegt.

Der Stoffwechsel eines Wesens besteht darin, daß dasselbe Stoffe aus der Außenwelt in sich aufnimmt, einen Teil derselben seinem eigenen Bestande einverleibt und den Rest derselben, zusammen mit den Produkten der Körperthätigkeit, wieder nach außen abgiebt. So wird z. B. die gewöhnliche atmosphärische Luft in die Lunge eingeatmet, dort ein Teil davon in den Körper (speciell ins Blut) aufgenommen, der Rest wieder ausgeatmet, zusammen mit einem Produkt der Körperthätigkeit, dem Kohlensäuregas.

Ich will nicht unterlassen, anzuführen, daß man die Erscheinungen der Reizbarkeit und des Stoffwechsels, so wie wir sie hier für unseren Gebrauch abkürzend definiert haben, schließlich auch bei jeder Dampfmaschine und jedem Gasmotor wiederfinden könnte und daraus vielleicht schließen möchte, der lebende Organismus sei überhaupt nichts anderes, nichts Höheres als eine derartige Maschine. Das wäre nicht richtig, denn, wie ich schon andeutete, ist das Charakteristische für den lebendigen Körper eine ganz eigentümliche und komplizierte Verknüpfung der Reizbarkeit mit dem Stoffwechsel, eine Verknüpfung, durch die nun etwas dem toten Dinge Fremdes zustande kommt, die Fähigkeit der Selbsterhaltung. Doch wir können den Unterschied zwischen dem lebenden Körper und der Maschine, so interessant er ist, hier nicht weiter verfolgen. Ich mußte diese Dinge hier nur erwähnen, weil ohne sie das wissenschaftliche Interesse, welches die Erscheinungen des Scheintodes bieten, nicht verständlich wäre.




Manche lebende Wesen können in einen Zustand geraten, in welchem sie selbst bei einer nicht allzu oberflächlichen Beobachtung als leblos, tot, erscheinen, während sie gleichwohl die Fähigkeit noch besitzen, in den Zustand des unzweifelhaften, unverkennbaren Lebens zurückzukehren. Jenen eigentümlichen Zustand bezeichnet man bekanntlich als Scheintod, oder als latentes oder potentielles Leben, die Rückkehr zum wirklichen oder aktuellen Leben hat man „Anabiose“ (Wiederaufleben) genannt.

Beispiele von Scheintod finden wir bei den verschiedensten Geschöpfen, bei den höchsten wie bei den niedersten Organismen, beim Menschen wie bei Tieren sowie bei Pflanzen. Nun werden allerdings unter dem Namen Scheintod Dinge zusammengefaßt, die innerlich ziemlich verschiedenartig sind; nur eine äußere Uebereinstimmung besteht insofern, als es in allen diesen Fällen schon einer genaueren Untersuchung und einer gewissen Zeit des Abwartens bedarf, um zu entscheiden, ob Tod oder Scheintod vorliegt.

Für weitere Kreise bieten naturgemäß diejenigen Fälle von Scheintod am meisten Interesse, welche den Menschen betreffen. Wissenschaftlich interessanter aber ist der Scheintod mancher Tiere, namentlich gewisser niederer Tiere, zum Teil deshalb, weil hierüber sorgfältigere Untersuchungen vorliegen als über den Scheintod des Menschen, zum Teil aber auch aus einem anderen Grunde, den ich schon hier erwähnen will. Beim Scheintode des Menschen handelt es sich nämlich, soviel wir wissen, niemals um einen völligen Stillstand der Lebensfunktionen, sondern nur um eine gewisse Herabsetzung derselben, und nur der Unvollkommenheit der Untersuchung ist es zuzuschreiben, daß der Eindruck des Totseins entsteht. Anders bei niederen Tieren und Pflanzen: bei ihnen ist es nach neueren Erfahrungen möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß in den allgemeinen Lebenserscheinungen (mit Ausnahme einer einzigen, der Reizbarkeit) ein völliger Stillstand für längere oder kürzere Zeit eintritt.

Unter den verschiedenen Schauernachrichten, mit denen die Zeitungen dem modernen sensationslüsternen Publikum eine angenehm unheimliche Nervenerregung zu verschaffen wissen, gehören zu den wirksamsten die Berichte über Fälle von Lebendigbegrabenwerden. Spekulative Novellenschreiber haben das Schauerliche, das diesem Gegenstände ohnehin anhaftet, noch auf Kosten der Naturwahrheit zu erhöhen gewußt, indem sie den Lebendigbegrabenen noch dazu bei Bewußtsein sein lassen, während er für tot erklärt wird und die Vorkehrungen zu seiner Bestattung getroffen werden. Der Arme hört alles, was um ihn her vorgeht, ist aber außerstande, die geringste Bewegung zu machen oder zu sprechen. – Das ist, nach allen unseren Erfahrungen zu urteilen, Erfindung: ein derartiger Zustand ist undenkbar. Wenn Herzschlag und Atmung so schwach geworden sind, daß sie sich bei ärztlicher Untersuchung nicht nachweisen lassen, dann muß auch das Bewußtsein erloschen sein, und damit ist der Mensch unfähig, irgend etwas zu hören oder zu denken.

Andrerseits ist nicht zu bestreiten, daß ab und zu wirklich die Atmung und der Herzschlag so schwach werden können, daß sie sich der Wahrnehmung, zumal eines ungeübten Beobachters, recht wohl entziehen können, und damit ist die Möglichkeit des Scheintodes und des Lebendigbegrabens gegeben. Bei Bewußtsein kann ein solcher Scheintoter aber nicht sein.

Daß die Atmung bei Menschen und Tieren unter Umständen sehr schwach werden kann, ja fast unmerklich, ist zweifellos. Zweck der Atmung ist es bekanntlich, das durch die Lunge fließende Blut mit frischer Luft in möglichst nahe Berührung zu bringen. Das Blut entnimmt dann der Luft den lebenswichtigen Bestandteil, den Sauerstoff, und führt ihn den übrigen Körperteilen zu. Nun müssen wir bedenken, daß ein Körper, der so absolut regungslos und unthätig daliegt, wie es ein Scheintoter thut, außerordentlich viel weniger Sauerstoff verbrauchen wird als ein thätiger Körper; es wird also für den ruhenden Körper eine geringere Lüftung der Lunge ausreichen. Wichtig ist es auch, daß es bei allen Fällen von Scheintod sich nicht um ein plötzliches Aufhören der Atmung handelt, sondern um allmählichen Uebergang zu einem Zustande verminderter Lebensthätigkeit, ähnlich dem Eintritt des Winterschlafes bei manchen Tieren (Murmeltier, Igel etc.). Den Winterschlaf, der gewissermaßen ein Mittelding zwischen gewöhnlichem Schlaf und Scheintod bildet, faßt ein französischer Physiologe, R. Dubois, auf Grund von Studien an Murmeltieren, als eine Art Selbstvergiftung mit Kohlensäure auf. Die Kohlensäure, bekanntlich ein betäubendes Gas, entsteht im Körper und wird durch die schwache Atmung nicht genügend aus der Lunge entfernt, so daß das Tier sich gewissermaßen in den Zustand der Betäubung hineinsteigert und eines äußeren Reizes bedarf, um wieder aufzuwachen. Die Tiere im Winterschlafe werden dabei kalt und starr wie Scheintote. Doch ich muß mich mit diesem Hinweis auf die Beziehungen zwischen Scheintod und Winterschlaf begnügen, ohne die Frage hier im einzelnen ausführen zu können.

Inwieweit bei scheintoten Menschen die Atmung herabgesetzt sein kann, darüber sind unsere Erfahrungen noch unvollkommen. Die üblichen Methoden, die dazu dienen sollen, das Vorhandensein oder Fehlen der Atmung festzustellen, sind recht mangelhaft: Beobachtung des Brustkastens und Vorhalten eines Spiegels vor Mund und Nase, der sich, wenn noch geatmet wird, mit einem Hauch beschlagen muß. Gerade für den wesentlichsten, wichtigsten Teil der Atmung, den Uebertritt von Gasen aus der Luft in das Blut der Lunge, und umgekehrt, haben wir keine praktisch verwendbare Untersuchungsmethode.

Als Schutz gegen das Lebendigbegrabenwerden im Scheintode hat man gewisse gesetzliche Vorschriften erlassen, von denen zweifellos die wichtigste in der vorgeschriebenen Mindestzeit zwischen mutmaßlichem Todeseintritt und Bestattung zu sehen ist. Im allgemeinen ist die Wahrscheinlichkeit der Bestattung eines Scheintoten außerordentlich gering, und die meisten derartigen Fälle, von denen die Zeitungen berichten, stellen sich bei näherer Nachforschung als einfach erfunden heraus. Am ehesten noch mag derartiges bei großen Epidemien vorkommen, wo die Zahl der Sterbenden groß ist, daher unter Umständen die Bestattung früh vorgenommen wird und der überbürdete und ermüdete Arzt die Untersuchung nicht mit der nötigen Sorgfalt vornimmt. Doch sind das, wie gesagt, jedenfalls Seltenheiten.

Die bisher besprochenen Fälle von Scheintod hatten wir als Folge einer Krankheit aufzufassen, und zwar einer Krankheit, die das gesamte Nervensystem in eine Art Lähmung versetzt. Man berichtet aber auch von Menschen, die imstande sein sollen, sich willkürlich in Scheintod zu versetzen. Diese Fälle sind es, denen wir jetzt einige Aufmerksamkeit schenken wollen. Am bekanntesten ist der willkürliche Scheintod der indischen Fakire, doch sind auch von Europäern ähnliche Produktionen bekannt geworden. Bei allen diesen Fällen kann man jedoch einen gewissen Zweifel nicht unterdrücken; die Berichte darüber, wenigstens die mir

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0410.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2021)