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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der sicheren Aussicht auf den Richtkarren und das Blutgerüst ihre letzten Tage vereinigt im Gefängnis zubrachten. Es ist bekannt, mit welcher erstaunlichen Heiterkeit diese Männer und Frauen ihre gewohnte Geselligkeitsform beibehielten; die ersteren lasen vor, während die letzteren feine Arbeiten machten, und wenn dazwischen plötzlich die Schlösser rasselten und der schreckliche Namensaufruf begann, so verabschiedeten sich die Todgeweihten mit derselben guten Form, als sollten sie sich zu Hofe begeben. Ein Marquis fuhr bei solcher Gelegenheit einen jungen Friseur an, der sich erlaubt hatte, am Vorabend der Hinrichtung einem adeligen Fräulein eine Kußhand zuzuwerfen: „Sie müssen sehr schlecht erzogen sein, um sich derart zu benehmen“. Mit diesen Menschen ging die alte Geselligkeit unter.

Auch als ihre glücklicheren Standesgenossen unter dem Konsulat und Kaiserreich aus dem Exil heimkehrten, vermochten sie nicht mehr, die alte exklusive, für die Privilegierten so unendlich süße Lebensweise wiederherzustellen. Sie mußten sich abfinden mit der großen plebejischen Flutwelle, die in ihr Gehege eingebrochen war und nicht mehr weggeschafft werden konnte.

Wie hatte sich Paris in wenig Jahren geändert! Ueber die Prachtfronten der Paläste waren rohe Bretter genagelt mit der Inschrift: „Oeffentliches Eigentum“. Wer den Machthabern befreundet war, erwarb sie um geringes Geld und verwandelte sie in öffentliche Tanzlokale, Pferdehandlungen, Fabrikwerkstätten etc. Niemand konnte Einsprache thun: die Eigentümer waren tot oder geflüchtet. Kein Salon öffnete mehr abends seine Thürflügel, keine „gute Gesellschaft“ existierte mehr, ihn zu füllen. Das heitere Lachen, das geistvolle Witzwort war verstummt, grobe Ausdrücke und Flüche bezeichneten die Konversation derjenigen Klassen, welche nun an Stelle der Verschwundenen saßen, der bereicherten Spekulanten und ihrer aus der Hefe des Volkes emporgestiegenen Frauen. Sie luden wohl ihre Freunde zu reichlichen Gastmählern ein, wo der Wein in Strömen floß, aber den Namen der Geselligkeit verdienten diese Essereien nicht: die dabei anwesenden Frauen ahnten nichts von der Konversationskunst der ehemaligen großen Damen. Sie saßen bei Tische, diese dicken Bürgerinnen mit den roten Backen und unfeinen Manieren und vertilgten unmäßige Portionen, behaupteten aber dann freilich hinterher, gar nichts essen zu können und sich sehr angegriffen zu fühlen. Im geheimen wandten sie alles mögliche an, um die unaristokratische Wangenröte loszuwerden, es gelang ihnen das aber ebensowenig, als sich gute äußere Formen anzueignen. Freilich wurden diese auch von niemand vermißt, die Männer behielten selbst die Hüte auf, wenn sie mit Frauen sprachen, und dachten nicht daran, ihnen die Aufmerksamkeiten der guten Sitte zu erweisen. Wer nicht mit ihnen im Liebesverhältnis stand, erlebte keine Beachtung.

Es versteht sich von selbst, daß bei einem solchen Zusammenbruch aller Begriffe von Ehrbarkeit und Anstand, bei einem so allerseitigen Sichgehenlassen bald eine ganz furchtbare Sittenlosigkeit herrschte. Leichtfertig geknüpfte und schnell gelöste Liebesverhältnisse waren allgemein, die meisten Machthaber der Schreckenszeit feierten Orgien in den Palästen der alten Aristokratie, und auch nach der Einsetzung des Direktoriums ging der allgemeine Sinnentaumel ungehemmt weiter. Barras, der fähigste und mächtigste unter den Direktoren, war ein vollständiger Wüstling, er organisierte eine Art von Hof und gab üppige Feste, aber welche Leichtfertigkeit herrschte in dieser Gesellschaft!

Als Königin glänzte darin die wunderschöne, höchst anmutige Madame Tallien, die erste Tonangebende, welche sich aus dem chaotischen Gewirre der Schreckenszeit hervorhebt. Auch sie, Barras’ augenblickliche Geliebte, hatte eine sehr unwürdige Vergangenheit, aber sie trug den schönen Namen: notre dame du thermidor, weil sie während und nach der Schreckenszeit unermüdlich war, die Begnadigung der Unschuldigen bei ihrem Gatten, dem mächtigen Tallien, durchzusetzen. Jetzt war sie die lebenslustige Veranstalterin von Festen und Bällen, zu welchen sich nach und nach alles einfand, was den Anspruch machen konnte, eine neue Gesellschaft bilden zu helfen.

Sie bot freilich einen ganz anderen Anblick als die vorausgegangene in Puder und Reifrock, die voll Haltung und Würde ihr förmliches Menuett tanzte. Den Walzer hatten die Revolutionsheere aus Deutschland mitgebracht; er feierte nun seine Triumphe, und die Bürger mit phantastischen Federhüten, hohen Halsbinden und flatternden Frackschößen schwangen die Bürgerinnen im leichten „griechischen“ Gewand, das oft genug nur aus einem einzigen Kleidungsstück bestand. Wenn Madame Tallien in einem goldgegürteten Gewand erschien, dessen leichtes Gewebe ihre Körperformen kaum verhüllte, so beeilten sich die sämtlichen Eleganten, es ihr nachzuthun, unbekümmert darum, daß das Pariser Klima für eine solche Tracht nicht geeignet ist. „Sie starben wie Fliegen,“ sagt ein zeitgenössischer Schriftsteller, „aber das hielt die anderen nicht ab.“

Madame Tallien und ihre Freundin, die Witwe Josephine Beauharnais, waren die Verfechterinnen des für ihre schlanken Gestalten so vorteilhaften „antiken“ Gewandes gegen die stark anglisierende Strömung, die von jenseit des Kanals herüber kam, im Gefolge der Richardsonschen Tugendromane, welche die untugendhaften Französinnen mit Begeisterung verschlangen. Immer wieder tauchten Mäntel, Hüte und Unterröcke à l’Anglaise auf und übten mit Kragen, Pelzbesatz und Volants ihren Einfluß auf die sogenannte antike Tracht. Und nicht alle Republikanerinnen waren so gesinnungstüchtig wie jene Bürgerin, die sich, um einen ganz echten griechischen Kleiderschnitt zu erhalten, an die société des beaux arts[1] wandte, welche an Stelle der aufgehobenen Akademie der Künste getreten war. Man willfahrte gerne ihrem Verlangen, indem sich sofort zwei Mitglieder der Kommission ernsthaft und gravitätisch zum Direktor des republikanischen Nationaltheaters begaben, „um der Bürgerin die Anweisung zu verschaffen, ihren Stoff auf eine schickliche Weise zu schneiden“.

Andere Bürgerinnen folgten mehr ihrer eigenen Eingebung in Auslegung der Mode, die nicht mehr von Versailles diktiert wurde, sie überboten womöglich noch die vergangene Zeit an unglaublichen Hüten, Hauben und Frisuren, wenn diese auch keines Puders mehr bedurften. Die rings um den Kopf wallenden Locken hatten aber denselben Uebelstand, wie dereinst bei ihrem Aufkommen unter Ludwig XIV: sie waren in natürlicher Fülle nur auf wenigen Köpfen zu finden. Also griff man zu demselben Auskunftsmittel wie damals, und eine elegante Frau hatte nicht eine, sondern ein Dutzend Perücken. Madame Tallien besaß 30 Stück, und zwar von verschiedenen Farben; diese wechselten vom Weiß- und Gelbblond bis zu Goldton, Rot und Haselnußfarbe. Das Stück wurde mit 20 Louisdoren bezahlt. Das war die republikanische Einfachheit, die Frucht der Schreckensjahre! Sie läßt sich niemals (dies lehrt die Geschichte) mit Gewalt irgendwo einführen, wo der Luxus herrschte, und alles Streben danach läuft auf widerliche Heuchelei hinaus. Mehr als irgendwo sonst hatte dieser Terrorismus der Armseligkeit in Frankreich die Gemüter verbittert; die ganze Jugend, die in den gezwungenen spartanischen Entbehrungen aufgewachsen war, dürstete förmlich nach Freude und Lebensgenuß, sie verwünschte die Jakobiner und ihre geheuchelte demokratische Tugend, sie wollte nun selbst die Vergnügungen kennenlernen, von welchen man bisher nur verstohlen erzählen durfte.

So knüpfte sich ganz von selbst die so blutig zerrissene Kette einer feineren Civilisation wieder an, man besann sich auf die Gewohnheiten früherer Zeit. Der Sonntag und die siebentägige Woche traten wieder in ihr Recht und es wurde der Geistlichkeit stillschweigend gestattet, eine Anzahl Kirchen neu zu weihen und Gottesdienst darin zu halten. Auch die Neujahrsgratulation, die förmlich verboten war, trat wieder in ihre Rechte, man fand es plötzlich nicht mehr unwürdig und servil, seinen Freunden Glückwünsche und Geschenke darzubringen, und seit 4 Jahren zum erstenmal sahen die Kinder von Paris am 1. Januar 1797 Spielsachen und Konfitüren. Die Schreckensmänner würden erstaunt gewesen sein, zu sehen, daß alles, was sie ausgerottet glaubten, unter der Hülle ruhig weiter gelebt hatte und jetzt plötzlich wieder zu Tage trat.

Freilich zeigte sich auch bei dieser Neugestaltung der Gesellschaft das alte Gesetz, demzufolge eine einfache Wiederherstellung vergangener Zustände unmöglich ist. Das Jahr 1789 hatte zu gründliche Aenderungen der Gesinnung bewirkt und der siegreiche „dritte Stand“ war eine Macht geworden, politisch wie gesellschaftlich,

  1. Gesellschaft der schönen Künste.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0432.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2021)