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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Irrtum!“ Die Stimme der jungen Frau klang halb erstickt bei dieser Versicherung. „Du warst überhaupt immer ungerecht gegen Wilkow, er war eine durchaus vornehme Natur.“

„Vornehm! Das bestreite ich gar nicht. Er war es sogar gegen seine Schwiegereltern; und dabei hat er mit aller Artigkeit oft genug den Herrn Baron gegen uns herausgekehrt. Dich mag er ja auf Händen getragen haben, es sah wenigstens so aus, aber mir wäre der Robert mit all seiner Schroffheit, mit seiner stürmischen, rücksichtslosen, aber durch und durch gesunden Natur lieber gewesen als dein höflicher, kühler, vornehmer Herr Gemahl mit seiner ästhetischen Bildung. Nimm’s mir nicht übel, Elfriede, aber ich habe ihn immer recht langweilig gefunden, und du wahrscheinlich auch, sonst hättest du nicht in dies ruhelose, unsinnige Reiseleben gewilligt. Du hast eben draußen in der Welt gesucht, was du in deiner Ehe nicht fandest, und da draußen hast du es auch nicht gefunden!“

Nach dieser unerhörten Redeleistung setzte sich der alte Herr mit einem hörbaren Ruck wieder zurecht in seiner Sofaecke. Er empfand es als eine förmliche Heldenthat, seiner Frau Tochter endlich einmal die Wahrheit gesagt zu haben, und ihr maßloses Erstaunen darüber schmeichelte ihm sogar. O ja, er konnte auch etwas leisten, besonders wenn Robert Adlau ins Spiel kam, der schon als Knabe sein Liebling gewesen war!

Elfriede mochte das fühlen, und das reizte sie nur noch mehr. Sie zerdrückte krampfhaft die schon halb vernichteten Rosen vollends in der Hand und warf sie dann auf den Boden. Die Bewegung hatte durchaus nichts mehr von Müdigkeit oder Gleichgültigkeit, sie war im Gegenteil höchst energisch.

„Ich erkenne dich ja gar nicht wieder, Papa,“ sagte sie im herbsten Tone. „Du bist sonst die Rücksicht selbst, und heute sagst du mir die verletzendsten Dinge ins Gesicht, erinnerst mich schonungslos an jene Zeit, wo ich noch ein halbes Kind war –“

„Ja, das warst du!“ unterbrach sie der Vater. „Und deshalb hätte ich damals eingreifen müssen. Ich wußte es ja, auf welcher Seite dein Herz war, aber das Eingreifen hat deine liebe Mama immer ganz allein besorgt. Jetzt aber sage ich dir, Friedel, gerade ein solcher Mann wie Robert hätte dir gefehlt – und mir,“ schloß er in rührender Selbsterkenntnis.

Das war zu viel für die schon überreizten Nerven der jungen Frau. Sie fand keine Erwiderung, aber sie warf sich in einen Sessel, brach in Thränen aus und kämpfte mit einem Ohnmachtsanfall.

Der Geheimrat hegte sonst einen unbedingten Respekt vor diesen Nervenzufällen; er pflegte bei ihrem Eintritt stets nach Kölnischem Wasser zu stürzen und Abbitte zu leisten für Dinge, die er gar nicht begangen hatte. Aber heute verfing auch das nicht bei ihm. Er war nun einmal ins Rebellieren geraten, und da ihm dies zu seiner eigenen Verwunderung so ausgezeichnet glückte, fing er an, sich darin zu gefallen. Anstatt Beruhigungsversuche anzustellen, blieb er sitzen und sagte ganz gelassen:

„Ja, nun weinst du wieder. Das solltest du dir abgewöhnen, Friedel! Robert sagt, er würde seiner Frau die Nervenzufälle sofort abgewöhnen – und ich glaube, er ist der Mann dazu!“

Die Worte hatten eine ungeahnte Wirkung. Die Thränen versiegten plötzlich, und Elfriede sprang auf. Flammendrot im Gesicht, mit sprühenden Augen; ihr ganzes Wesen schien sich aufzubäumen in leidenschaftlicher Heftigkeit, und außer sich rief sie:

„Robert und immer nur Robert! Für dich scheint es überhaupt gar nichts anderes mehr zu geben auf der Welt. Ich will aber diesen Namen nicht mehr hören! Ich will überhaupt nichts mehr hören von der Vergangenheit! Sie ist tot für mich!“

Damit eilte sie stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, den Vater allein lassend, der durch diesen Ausbruch gar nicht aus der Fassung gebracht wurde. Um seine Lippen spielte im Gegenteil ein zufriedenes Lächeln, als er ihr nachblickte.

„Ganz meine alte Friedel! Nun, wenn der Trotz und der Eigenwille erst wieder da sind, dann wird auch wohl das Lachen wiederkommen. Also ‚tot‘ ist die Vergangenheit für sie, und für den Robert ist sie ‚begraben und vergessen‘? Die beiden stellen sich doch etwas merkwürdig an bei dem ‚Totsein‘ und ‚Vergessen‘! Ich glaube, wenn sie einmal allein wären, so Auge in Auge, dann –“

Er brach ab und versank in Gedanken. Der alte brave Herr, dem nichts auf der Welt so zuwider war wie Intriguen, der sich in seiner langen, ehrenwerten Laufbahn nie so etwas hatte zu schulden kommen lassen, er spann jetzt eine ganz regelrechte Intrigue, vorläufig noch im Kopfe, aber als er damit fertig war, stand er auf und sagte mit hohem Selbstgefühl:

„Jetzt werde ich auch einmal eingreifen! Wofür bin ich denn Vater und Geheimrat!“

(Fortsetzung folgt.)     




Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt.

Wer hilft den armen verkrüppelten Kindern? Eine kurze Frage, aber welch’ eine Fülle von Not und Elend läßt sie nicht vor unseren geistigen Augen erscheinen, in allen jenen armen verkrüppelten, gebrechlichen Kindern, die oft verlassen, verstoßen, verachtet, ohne die notwendigste Pflege, Erziehung und Ausbildung sich nach Hilfe sehnen!

Ihre Zahl ist sehr groß und unter ihnen befinden sich Jammergestalten, deren Anblick auch das härteste Herz erweichen muß. Viele von ihnen sind mißgestaltet und verkrümmt geboren, andere, und zwar die meisten, sind durch schwere Krankheiten, Unglücksfälle und besonders durch Mangel an Pflege verkrüppelt; denn sehr oft sind die Familien, denen sie angehören, gar nicht imstande, ihnen das nötige Maß von Hilfe angedeihen zu lassen! Und wie traurig steht es erst bei den verwaisten Krüppelkindern! – Solange sie jung sind, tritt die Not zurück, aber wenn die Schulzeit herankommt, wird sie sehr fühlbar; denn entweder können die armen Kinder gar nicht zur Schule gebracht werden, weil sie zu gebrechlich sind, oder man kann die Aermsten, wenn sie in der Schule sind, vor Mutwillen, Unverstand und Kränkungen der Mitschüler nicht hinreichend schützen. Nach der Schulzeit wird die Sorge noch größer; denn kein Meister mag ein verkrüppeltes Kind in die Lehre nehmen. So bleiben die meisten Krüppelkinder armer Leute ohne Schulbildung und ohne Vorbildung fürs Leben. Durch gewerbsmäßigen Bettel suchen später viele ihr Dasein zu fristen, oder fallen den Gemeinden zur Last. Während man für andere elende Menschen, für Blinde, Epileptische, Blöde etc., in barmherziger Liebe viel gethan, große Anstalten erbaut, zahlreiche Pflegekräfte in Bewegung gesetzt hat, ist zur regelrechten Ausbildung und Erziehung gebrechlicher Kinder noch sehr wenig geschehen. In Württemberg, Bayern, Dänemark, Norwegen, Schweden hat man sich dieser Aermsten unter den Armen schon seit 50 Jahren unter allgemeinster Teilnahme der Bevölkerung angenommen und die schönsten Erfolge erzielt; aber in ganz Mittel- und Norddeutschland bestand bis vor kurzem nur eine einzige Kinderkrüppelanstalt in Nowawes, und diese auch erst seit einigen Jahren. Wieviel bleibt da noch zu thun!

Eine beredte Sprache reden die Erfolge der „Königlich Bayerischen Central-Anstalt für Bildung und Erziehung krüppelhafter Kinder“ in München. Aus derselben sind bis zum Jahre 1894 hervorgegangen 2 Gelehrte, 3 Lehrer, 4 Musiker, 4 Buchhalter, 59 Buchbinder, 53 Schreiber, 23 Uhrmacher, 28 Schneider, 18 Galanteriearbeiter, 11 Maler, 13 Schreiner, 10 Pinselmacher, 6 Lithographen, 6 Portefeuiller, 5 Goldsticker, 7 Schuhmacher, 3 Blumenmacher, 4 Rentamtsgehilfen, 16 Oekonomiearbeiter, 6 Amtsgerichtsgehilfen, 2 Sattler, 8 Papparbeiter, 3 Photographen, 3 Vergolder, 6 Schäfer, 4 Buchhalterinnen, 3 Ladnerinnen, 13 Kleidermacherinnen, 5 Modistinnen, 56 Näherinnen, 11 Stickerinnen, 10 Zimmermädchen etc. Von je 100 Kinderkrüppeln sind 92 für einen selbständigen bürgerlichen Beruf

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0478.jpg&oldid=- (Version vom 29.6.2021)