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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

wohl wenig Glück mit haben. Onkel Fritz hat ja schon geschrieben deswegen. Aber Papa und Mama wollen nicht.“

„Er hat geschrieben!“ sprach sie vor sich hin. Heimlich und immerfort hat er schon daran gedacht, wie er mein Los erleichtern kann. Er liebt und versteht mich mehr als meine eigenen Eltern, dachte sie.

Dann umklammerte sie Reinalds Arm. Ihre Augen brannten.

„Du mußt mir beistehen,“ sprach sie heftig, „du mußt, wenn du mich lieb hast. Stoßen Papa und Mama sich an der Geldfrage? Wollen sie nichts geben und auch nicht, daß ich von Onkel Fritz noch mehr nehmen soll? Dann schaff’ du mir das Geld! bitte, bitte!“

„Wie sollte ich das?“ fragte er verstimmt durch ihre heftigen Bitten. „Das Geld, das ich von Papa im Gut habe, kontrolliert er doch. Und überhaupt, wie sollte ich imstande sein, heimlich Geld zu schaffen? Und von Marthas Mitgift, die ich im Januar bekomme, kann ich dir doch auch nichts geben.“

„Ich kann aber nicht hier bleiben! Ich ertrag’ es nicht, ich werde wahnsinnig!“ murmelte sie.

Reinald sah sie aufmerksam an. Sein Gesicht war traurig.

„Sabine,“ sprach er, „wenn du dich so hast, müssen mir da nicht Gedanken kommen? Ich hab’ so was munkeln hören im Dorf. – Der Wirt, der mein Feind ist, machte mal so ’ne schnodderige Bemerkung von feinen Damen und Rendezvous und Franzosenlinde. Ich hab’ es nicht glauben wollen! Sabine, es giebt doch nicht in Mühlau einen Mann, dem du nicht begegnen kannst?!“

„Schweig!“ schrie sie. Bebend vor Zorn stand sie vor ihm, das Wetterleuchten einer maßlosen Erregung auf dem Angesicht. „Du läßt deine Schwester beschimpfen?“ sprach sie flammend, „du! Du glaubst, daß ich etwas Kleines und Unreines thun könnte? Ja denn, ich will von hier fort um eines Mannes willen. Aber die Augen brauche ich nicht niederzuschlagen, vor ihm nicht, vor niemand. Frage aber nichts!“

Reinald war beschämt und kleinlaut. Zugleich fühlte er sich seiner Schwester so seltsam entfremdet.

„Wenn du denn durchaus fort willst, mußt du lieber den Eltern alles gestehen,“ sagte er etwas trotzig.

„Das kann ich nicht – das niemals,“ murmelte sie, „sie würden mich nicht verstehen.“

„Na, dann kann ich dir nichts weiter raten,“ meinte er.

„Geh nur. Laß mich nur. Verzeih, daß ich dich mit meinen Angelegenheiten behelligte,“ sprach sie wie erschöpft, setzte sich auf den nächsten freien Stuhl und starrte vor sich hin.

„Aber Sabine. Sei doch nicht so!“

Und in dem Wunsch, brüderliches Interesse für sie zu bekunden, setzte er noch hinzu: „Am besten wäre es wirklich, du heiratetest bald. Das gäbe dir wieder festen Halt. Sieh mal, da ist Hallendorf – der denkt noch immer an dich. Ein ermunternder Blick von dir – und er beginnt von neuem, um dich sich zu bewerben. Das garantier’ ich.“

„Laß nur. Danke,“ sprach sie, „vielleicht später.“

Reinald merkte, daß sie ganz geistesabwesend war und gar nicht wußte, was ihre Lippen sprachen. Kopfschüttelnd ging er hinaus. Gottlob, daß seine Martha verständiger war und von ruhigerer Gemütsart!

Sabine wurde von einem unbändigen Heimweh nach Onkel Fritz und Susanne befallen. Die waren, so schien es ihr, die einzigen wahren Freunde, die sie noch auf der Welt hatte. Sie fühlte sich außer stande, auf Susannens angekündigten Besuch zu warten. Sie warf ihren Pelzmantel um, nahm ein Tuch um den Kopf und lief, die Straße entlang, zum Marktplatz, in das Hotel. Es war schon fast ganz dunkel. Dazu bückte sie sich tief unter ihren Regenschirm, um den Wind und die schräg daherjagenden Tropfen abzuhalten. Unter dem Rand des Schirmes sah sie, daß zwei Offiziere ihr entgegenkamen; sie waren schon dicht vor ihr, und wenn Sabine die Gesichter hätte sehen wollen, hätte sie den Schirm hochheben müssen. Aber sie hielt ihn nur fester an sich. Sie wollte keine Bekannten sehen und vielleicht gar angeredet werden. Daß es Achim von Körlegg sein könnte, der ihr hier im versiegenden Abenddämmer des Novembertages so nah’ vorbeiging, daß sein Ellbogen ihren Schirm streifte, ahnte sie nicht. Es fiel ihr merkwürdigerweise gar nicht ein.

Er aber, der mit einem Kameraden ging, sah sich flüchtig nach der dunklen, eiligen Gestalt um, und der Kamerad sagte: „Nanu, wer war denn das?“

Sie war nicht erkannt worden.

Bei Susanne und Onkel Fritz wurde sie mit Freuden empfangen. Die saßen so gemütlich um den Theetisch, als hatten sie ihr Leben lang nie wo anders gewohnt wie im Hotel zum Kronprinzen in Mühlau.

Sabine erzählte, daß sie von ihrem Bruder die Ungeneigtheit ihrer Eltern erfahren habe, sie von hier fortzulassen.

Darauf meinte der alte Herr, er wolle unter vier Augen mit ihnen reden. Sabine sah ihn erschreckt an. Er verstand den Blick. Er nickte ihr beruhigend zu. „Ich weiß, was ich zu sagen und was ich zu verschweigen habe,“ sagte er.

Sie errötete.

Nachher, als Susanne sie auf den Flur hinausbegleitete, hatten sie noch ein erregtes Flüstergespräch.

„Um eines flehe ich dich an, liebe, beste Susanne! Wenn ich hier bleiben muß – verlaß du mich nicht auch gleich! Bleibe bei mir! Wenigstens ein paar Wochen noch! Du mußt mir auch noch einen Dienst erweisen – einen großen, großen Dienst!“

„Welchen? Natürlich bin ich zu jedem bereit,“ versprach Susanne. Die andere küßte sie heftig.

„Ich danke dir! Ich werde dir’s schon sagen, wenn es soweit ist.“

„Morgen früh kommen wir zu dir. Während Onkel Fritz vorn mit den Eltern spricht, helfe ich dir, deine Sachen auspacken und einräumen.“

„Gut – ja. Ich werde nicht wieder in das Hotel kommen. Ich könnte doch ihm begegnen! Das wäre schrecklich. Eben gingen mir zwei von seinen Kameraden vorbei.“

„O Gott, wenn er es gewesen wäre!“ rief Susanne.

„Er war es nicht! Das hätte ich gefühlt. Ich glaube, ich würde in der Nacht unter Tausenden seine Gegenwart herausspüren. Ich würde – ich weiß nicht was. Gute Nacht! Auf morgen!“

In ihrem Elternhause empfingen sie Vorwürfe.

„Bei dem Wetter bist du noch ausgegangen!“ jammerte die Mutter.

„Zieh’ nur gleich trockenes Fußzeug an,“ sagte der Oberamtmann.

„Ihr thut ja gerade, als wenn ich die Schwindsucht hätte,“ sprach sie ungeduldig.

Milly und Leo standen verschüchtert und enttäuscht umher. Sie hatten sich so sehr auf die Mama gefreut! Und nun kümmerte sie sich kaum um sie.

Als Sabine abends im Bett lag, kam es ihr vor, als sei sie von ungeheuren körperlichen Strapazen tödlich erschöpft, so hatte der halbe Tag daheim sie angegriffen.

Und in der Stille, die sich nun über Menschen und Haus senkte, fing Sabine an, über sich nachzudenken. Besonders beschäftigte sie sich mit der Empfindung, die sie beim Anblick ihrer Kinder in sich aufwallen fühlte. Hab’ ich denn kein Herz? Bin ich eine schlechte Mutter? Ein liebloser Mensch?

Die Stelle in Achims Brief fiel ihr ein: „Denke an deine Kinder, lebe für sie!“ Dieser Hinweis hatte sie furchtbar verletzt, allen Trotz damals in ihr wachgerufen. Derlei kann nur ein Mann schreiben, der ein Weib weder wahrhaft liebt noch versteht.

Die Kinder? Die Kinder waren ein Teil ihrer selbst!

Wenn das Schicksal ihr damals den kleinen Sohn genommen hätte, wie er krank war – Achims Liebe, Achims Besitz hätten ihr nicht das Kind zu ersetzen vermocht, es nicht verschmerzen lassen! Ebensowenig konnten die Kinder ihr den Geliebten ersetzen, die einen und der andere – sie füllten doch ganz verschiedene Seiten ihres Wesens aus!

Ob ein Mann das wohl gar nicht begreifen konnte?!

Aus diesen Gedanken fuhr sie plötzlich erschreckt auf: Milly hustete im Schlaf. Auf nackten Füßen lief Sabine an das Bettchen der Kleinen. Da kam schon die Strafe für die böse Aufwallung von heute mittag: das Kind würde erkranken, sterben!

Vor lauter Herzklopfen konnte Sabine weder deutlich fühlen noch hören. Der Puls der Kleinen schien ihr zu rasen, der Atem zu keuchen. Sie betastete die Wangen des Kindes. Sie machte Licht, weil die Nachtlampe so unheimlich düster brannte und schwarze Schatten auf dem Gesicht der Kleinen lagerten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0494.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2021)