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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


„O nein, durchaus nicht – ganz im Gegenteil! Aber es ist doch merkwürdig, daß Sie so dasitzen!“

„Ich finde es noch weit merkwürdiger, daß Sie da sind. Ich glaubte Sie in Konstantinopel.“

„Ja, dort war ich noch vor drei Tagen, aber jetzt bin ich hier,“ sagte Ferdinand verwirrt. „Sie sind also wirklich ganz munter und lebendig?“

„Das sehen Sie doch!“ rief der alte Herr, höchst beleidigt durch diesen fortwährenden Zweifel an seiner Lebendigkeit. „Haben Sie vielleicht geglaubt, mich als Leiche zu finden?“

„Ja, das glaubten wir allerdings – das heißt, wir fürchteten es,“ verbesserte sich Wellborn schnell, als jener entrüstet auffuhr. „Die gnädige Frau war in Todesangst und wollte auf der Stelle abreisen, die Kammerjungfer erklärte, in den zwei Stunden nicht packen zu können, da wurde sie einfach mit dem Gepäck zurückgelassen. Die Frau Baronin nahm nur das Allernotwendigste mit – mich hat sie auch mitgenommen. Das heißt, sie wollte es durchaus nicht, aber Mistreß Thornton bestand darauf, daß sie in dieser Angst und Aufregung nicht allein reisen dürfe – und die Kammerjungfer wird mit den Koffern nachkommen.“

„Aber so erklären Sie mir doch endlich die Ursache!“ unterbrach ihn Rottenstein, der bei diesem ohne jede Pause hervorgesprudelten konfusen Bericht die Geduld verlor. „Ich verstehe kein Wort von der ganzen Geschichte, so reden Sie doch vernünftig!“

Der Aufgeregte mochte es wohl selbst fühlen, daß sein Vortrag einigermaßen der Klarheit entbehrte, und so fing er denn noch einmal von vorn an.

„Wir waren in Konstantinopel, mit unseren englischen Reisegefährten, da kam der Unglücksbrief, mit der Nachricht von Ihrem Unfall, von dem schweren Sturze. Mister Thornton wollte erst telegraphisch nähere Nachrichten einziehen, aber die gnädige Frau wollte nichts davon hören und beschloß die sofortige Abreise. So nahmen wir denn den Orient-Expreßzug und sind nur so durch die Länder geflogen, es war eine höchst anstrengende Fahrt. Und nun sitzen Sie hier bei einer Flasche Wein und man sieht Ihnen gar nichts mehr an. O, das ist merkwürdig, höchst merkwürdig!“

Dem Geheimrat ging jetzt ein Licht auf und sein ganzes Gesicht verklärte sich dabei. Das also war die Wirkung jener Nachricht aus Brankenberg gewesen! Nun kommst du doch, Friedel, und noch dazu mit dem Orient-Expreßzug! triumphierte er innerlich, aber er sah doch ein, daß er den Vorwand bestätigen müsse, den seine Tochter für ihre plötzliche Abreise erfunden hatte. „Ja, die Geschichte war gar nicht so gefährlich, als sie anfangs aussah,“ sagte er im gemütlichsten Tone. „Ich bin allerdings die Treppe heruntergefallen –“

„Nein, Sie fielen ja in den Graben, weil der Wagen ein Rad verlor,“ berichtigte Wellborn, der die Sache viel genauer wußte als der Betroffene selbst.

„Richtig, in den Graben! Ich weiß das nicht mehr so genau, mein Kopf hat doch etwas gelitten. Eine kleine Gehirnerschütterung, die aber Gott sei Dank nichts auf sich hatte. Doch nun sagen Sie mir vor allen Dingen, wo ist denn eigentlich meine Tochter?“

„Ist sie denn noch nicht hier?“ fragte Ferdinand höchst betroffen. „Mein Gott, sie hat mich ja schon vor zwei Stunden verlassen und einen Fußweg nach Lindenhof genommen, der bedeutend näher sein soll als die Fahrstraße – durch den Reichenauer Forst, wie sie sagte.“

Der alte Herr sprang vom Stuhle auf. Der Reichenauer Forst! Da gab es nur einen Fußweg und der Wald war überhaupt nicht so groß, daß man sich darin verfehlen konnte. Da lief die Friedel dem Robert ja geradezu in die Arme! „Bravo!“

Er hatte das letzte Wort ganz laut gerufen und fügte nun erklärend hinzu:

„Ich freue mich nämlich sehr, daß meine Tochter da ist!“

„Bitte, vorläufig ist sie noch nicht da,“ warf Ferdinand mit besorgter Miene ein. „Wir fanden keinen Wagen auf der kleinen Station, wo wir ausstiegen; es mußte erst in das Dorf geschickt werden, und der Stationsvorsteher sagte, es könne wohl eine Stunde dauern. So lange wollte die gnädige Frau aber nicht warten, sondern zu Fuß vorausgehen. Ich wollte sie natürlich begleiten, aber sie meinte, ich müsse bei dem Gepäck bleiben. Das that ich denn auch und habe die Koffer gleich mitgebracht.“

Der gute Ferdinand erzählte das ganz naiv, ohne zu merken, welche klägliche Rolle er dabei spielte. Er war es freilich längst gewohnt, von der Dame seines Herzens als eine Art höherer Kammerdiener behandelt zu werden, der auf der Reise alles nötige besorgte, und den man dann, je nach Bedarf, entweder mitnahm oder bei dem Gepäck zurückließ, das fiel ihm gar nicht mehr auf. Geheimrat Rottenstein aber wurde jetzt auf einmal die Liebenswürdigkeit selbst. Er lud den jungen Mann zum Sitzen ein, bot ihm Wein an und äußerte gar keine Besorgnis wegen des Ausbleibens seiner Tochter. Sie kenne den Weg ja genau, man müsse eben warten. Ihm war diese Verspätung der sicherste Beweis, daß Elfriede „jemand“ begegnet sei.

Wellborn war sehr angenehm berührt von dieser Liebenswürdigkeit. Er nahm Platz und begann zu erzählen, wobei er wie gewöhnlich alles mögliche durcheinander schwatzte. Zunächst von der Reise, die er das Glück gehabt hatte, in Gesellschaft der gnädigen Frau zu machen. Es herrsche so unendlich viel Sympathie zwischen ihnen beiden, die Frau Baronin liebe das Reiseleben, er auch, er habe sich jetzt sogar zu einer Reise um die Erde entschlossen. Dann kam er plötzlich ganz unvermittelt auf seine Fabrik, die schon seinen Papa zum reichen Mann gemacht habe und fortwährend glänzende Geschäfte mache. Er habe zwar nicht Rang und Titel zu bieten, aber sonst ständen alle Annehmlichkeiten des Lebens zu Gebote, ihm, dem glücklichen Erben, und einem Wesen, das er nicht nennen wolle, das aber vielleicht erraten werde, da es dem Herrn Geheimrat sehr nahe stehe – kurz, er steuerte, zwar noch etwas schüchtern, aber doch unverkennbar, auf den väterlichen Segen los.

Das hatte nun zwar jetzt keine Gefahr mehr, aber der Geheimrat sah doch ein, daß er es nicht zu einem förmlichen Antrage kommen lassen dürfe. Er lenkte deshalb rasch ab und erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden des Wetterglases.

In dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei dieser Frage, aber er zog sofort das Glas hervor, das er natürlich wieder bei sich hatte, stellte es auf den Tisch und betrachtete es mit nachdenklicher Miene.

„Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte,“ gestand er. „Denken Sie nur, mein Wetterglas stand in Aegypten fortwährend auf Regen, monatelang – und am Nil regnet es ja überhaupt nicht.“

„Da hat sich das Ding eben geirrt, das passiert ihm ja gewöhnlich,“ meinte der alte Herr wohlwollend. „Da hat mein Gärtner ein zuverlässigeres Wetterglas. Sein Laubfrosch saß gestern abend trotz des Regens auf der höchsten Stufe seiner Leiter, und heut’ haben wir wirklich herrliches Wetter.“

„Das zeigt mein Glas ja auch an!“ rief Wellborn triumphierend. „Da sehen Sie selbst – Beständig – höchster Stand! Nein, wie mich das freut!“

„Wohl weil es so selten vorkommt?“ sagte der Geheimrat, aber Ferdinand lächelte etwas verschämt.

„O nein, aus einem anderen Grunde. Ich bekenne mich da einer gewissen Schwäche schuldig. Es ist eine Art Aberglaube – lachen Sie nur, Herr Geheimrat – aber ich nehme diesen günstigen Stand als ein glückliches Vorzeichen für mein Eintreffen in Ihrem Hause, für einen Wunsch, eine Hoffnung, die ich noch nicht nennen will, deren Erfüllung mich aber zum Glücklichsten der Sterblichen –“

Da steuerte er schon wieder auf den Segen los. Rottenstein mußte zum zweitenmal dazwischen fahren, und diesmal erkundigte er sich mit krankhaftem Eifer, wie weit denn das große Reisewerk gediehen sei. Er empfing auch ausführlichen Bescheid. Die Reisebeschreibung war fertig und sollte demnächst erscheinen, in glänzender Ausstattung, natürlich auf Kosten des Verfassers, dessen Mittel ihm das ja erlaubten. Damit geriet Ferdinand wieder ins Schwatzen und fand kein Ende dabei.

Der alte Herr hörte so wenig zu wie damals uuter den Oliven, aber heute schlief er nicht ein, sondern schwelgte in dem erhebenden Bewußtsein, schließlich doch erfolgreich eingegriffen zu haben, wenn auch ganz absichtslos. Er war es ja doch gewesen, der die Nachricht aus Brankenberg gesandt hatte.

(Schluß folgt.) 


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0511.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)