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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

das, vielleicht vor dreihundert Jahren zum erstenmal gefüllt, immer vollgehalten und nur bei festlichen Gelegenheiten angestochen und mit den edelsten Jahrgängen nachgefüllt wird.

Die beiden Freunde waren bald in ein politisches Gespräch verwickelt, wie es üblich ist, wenn zwei Engadiner zusammentreffen.

„Jetzt können wir gehen, jetzt bringt man sie nicht mehr vom Tische weg!“ flüsterte Menja, die frische, zierliche Hagrose, Cilgia zu.

Mit einem schelmischen „Auf Wiedersehen!“ verließen die Mädchen die Stube.

Sie schwärmten durch das Dörfchen. Bald waren einige Mädchen beisammen und gingen gegen das uralte Wallfahrtskirchlein am obersten Ende des Dörfchens hinauf.

Die Jünglinge standen schon plaudernd auf der Wiese, und als nun die Mädchen kamen, grüßte man sich mit Nicken und Neigen, wie es der Sitte der Zeit entsprach.

Es ist einer der herrlichsten Orte im Engadin, die Höhe, wo das uralte Wallfahrtskirchlein von St. Moritz steht.

Das Auge überblickt die wechselvolle, entzückende Gebirgs- und Wasserlandschaft gegen den Maloja und darüber hin ferne, traumschöne Spitzen, über die sich italienische Bläue spannt – der Blick versinkt in das Lichtmärchen des St. Moritzersees, er steigt hinauf zu den reinen weißen Flammen der Berge und schweift hinab durch das Thal des Inns bis wieder zu fernen kühnen Höhen.

Die Gesellschaft labte sich an dem Bild. Da zog einer der jungen St. Moritzer, die sich den Freunden angeschlossen hatten – der junge Badrutt – eine Mundharmonika aus der Tasche und blies darauf ein Tänzchen. Alsbald tanzte die Gesellschaft auf dem kurzen frischen Rasen in Luft und Sonne den Ringelreihen und nachher machte sie ihre Pfänderspiele.

Konradin von Flugi und Menja Melcher waren besonders glücklich. Alte Sitte schützte das Recht der Jugendgesellschaften, und selbst Junker Flugi oder Melcher hätten es nicht gewagt, ihre Kinder zu tadeln, daß sie sich im gemeinsamen Spiel freundlich begegneten.

Als dann aber wieder ein Ringelreihen beendet war, wandte sich Fortunatus Lorsa, der kraftvolle Jüngling, mit glühendem Gesicht an die Jungmannschaft und den Mädchenkranz.

„Freunde, Freundinnen,“ rief er, „mich und Konradin von Flugi brennt ein Wort, das unser liebes Fräulein Cilgia Premont in der Trinklaube des Sauerquells gesprochen hat! Sie sagte: ,Vergeßt nicht, daß ihr a Portas, des großen Menschenfreundes, Schüler seid!‘ Und vergessen wollen wir es nicht, sondern Freunde der Menschen sein, Freunde vor allem der bedrängten Heimat. Wir Jünglinge, wir wollen uns zu einer Gesellschaft, ‚Gioventüm d’Engadina‘, ‚Jugend des Engadins‘, zusammenschließen und uns vorbereiten, daß wir da sind und jeder seinen Mann stellt, wenn die enge oder die weite Heimat ruft!“

Da stürmte Konradin von Flugi in flammender Begeisterung auf den Sprecher los und umarmte ihn: „O, Fortunatus, woran ich ersticke, das sagst du!“

Lorsa aber fuhr fort: „Und ihr, edle Mädchen, mögt mit uns sein, wenn wir die Zukunft beraten, damit eure Gegenwart die Freude am Werke erhöhe und euer Beifall uns anfeuere. Es ist ein alter Brauch, daß sich die Jugend des Engadins, im Winter zumal, bald zu St. Moritz, bald zu Madulein oder Zuoz, bald zu Samaden oder Pontresina begegnet. Das laßt uns in Zukunft häufiger thun und dann uns nicht nur der edeln Unterhaltung, sondern auch ernster Rede widmen, indem wir das besprechen, was dem Engadin frommt. Laßt rechtschaffene Jünglinge und Jungfrauen aus allen Dörfern zu uns treten! Du, lieber Konradin, den die Muse geküßt hat, magst unser Spielmann sein, und gemeinsam mit dir will ich, wenn unsere Zeit da ist, aus dem Gesundbrunnen von St. Moritz eine Stätte machen, wo viele Freude, Trost und Erquickung finden! Du aber, bedächtiger Saratz, der du den Blick für die derbe Wirklichkeit hast, werde der, der uns Straßen baut, und du, kluger Luzius von Planta, der du die Gabe feiner Beredsamkeit hast, bereite dich auf die Ratsäle vor, daß du dort mit gewichtigem Wort für das Gedeihen des Engadins kämpfest! So gründen wir denn die Gioventüm, den Bund der Jugend!“

Es war eitel Freude und Begeisterung im Kreise und die Wangen der Jünglinge und Mädchen glühten.

Als nun aber Lorsa fragte, was für Jünglinge und Mädchen in den Dörfern man noch zur „Jugend des Engadins“ laden wollte, und niemand einen ersten Vorschlag wagte, da trat Cilgia mit ruhiger Festigkeit vor und sagte: „Ich empfehle euch Markus Paltram von Madulein, Büchsenmacher zu Pontresina.“

Eine Bewegung entstand, denn niemand hatte diesen Namen erwartet, und Luzius von Planta fragte vorsichtig: „Ist sein Ruf auch gut?“

Nun aber wehrte sich Konradin von Flugi für Paltram und rühmte sein heldenmütiges Wesen, das er durch die Rettung des Tirolers bewiesen, und Lorsa sagte: „Brauchen wir mehr als das Wort unserer Freundin Cilgia?“

So sollte Paltram eingeladen werden, in den Freundeskreis der „Jugend des Engadins“.

Vorschläge und Namen folgten sich nun, man tanzte und spielte – bis zum Sonnenuntergang, der eine Garbe Goldes auf das Thal und den See von St. Moritz streute und funkelnde Lichter an den Bergen entzündete, schwärmte man für den Jugendbund.

*  *  *

Ein freundlicher Abend, dann standen die beiden Freundinnen am Fenster ihres gemeinschaftlichen Schlafkämmerchens und schauten in die schweigende Hochgebirgsnacht und auf den See, in dem sich die Sterne spiegelten.

„Der Vater,“ erzählte Menja, um die Cilgia den Arm gelegt hatte, „hätte es gar nicht ungern gesehen, wenn Lorenz Gruber mich statt Eurer für seinen Sohn gewollt hätte. Er hält so große Stücke auf den Handelsfreund – Gott sei Dank hat sich Gruber nicht um mich gekümmert.“

Da gab Cilgia der kleinen Freundin lachend einen Kuß. „Nein, liebe Menja, bleibe du unserm Herrn Konradin treu!“

„Das kann ich nicht anders!“ erwiderte Menja und blickte lächelnd und hoffnungsreich zu Cilgia auf.

„Und gefragt hätte ich dich gern schon oft – hast du auch einen Jüngling lieb?“

„Still, still, Menja!“ versetzte Cilgia heftig, und „Ich weiß es selber nicht!“ fügte sie lachend hinzu.

„Lorsa?“ fragte Menja flüsternd.

„Lorsa? – nein!“ erwiderte Cilgia träumerisch. „Wir wollen schlafen gehen, Menja – und beten, daß auf der Jugend des Engadins der Segen Gottes sei.“

6.

Der Pfarrer und Cilgia schritten über die Forcla sur Ley, hoch über den im Lichtglanze ruhenden Seen des Engadins, auch noch über den vom Sturm zerspellten, von Lawinen halb erschlagenen letzten wipfeldürren Arven in menschenferner Einsamkeit.

„Findest du jetzt nicht auch, Cilgia, daß du mit deiner Bergsteigerei absonderliche Gelüste hast,“ fragte der gemütliche Herr, der unter dem Rucksack und unter der eigenen stattlichen Leibesfülle keuchte und den Schweiß von der Stirne wischte, „hier ist vor dir gewiß kein Weib gegangen!“

„Dann freu’ ich mich, Onkel, daß ich die erste bin!“ jubelte sie. Spannkräftig schritt sie, zum freieren Gehen den Rock leicht aufgeheftet, am Bergstock über die Platten des Felsgetrümmers, zwischen dem die Alpenrosen in purpurnen Gluten wogten.

„Ein Meer von Rosen, ein ganzes Meer!“ jubelte sie und steckte die funkelnde Pracht in Brust und Gürtel und auf den Hut und zwischen die Alpenrosen stahlblaue, tiefsinnige Kelche des Enzians.

Und wieder brach sie in einen Ruf des Entzückens aus: „Edelweiß! Schau, Onkel, Stern an Stern. – Die Blume der Kühnen!“ Freudvoll und gierig wie ein Kind raffte sie die schönsten der Blüten, thalergroße Stücke, zusammen und heftete sie zu den anderen.

Lebenslust und Anstrengung hatten ihre Wangen mit einer lebhaften Röte gefärbt, ihre Augen sprühten, ihre Brust wogte, und wie ein Märchenkind sah sie in der reichen Blumenpracht aus, die sie um sich gethan hatte.

„Du Bacchantin des Lebens!“ stieß der Pfarrer bewundernd hervor.

Sie aber stellte sich auf einen freien, mit Moos überwachsenen Felsen und blickte über das Land.

„Onkel, vier Seen wie heilige Kelche des Lichtes, wie Frühling das Thal! Darin hingestreut wie Häufchen weißer Kiesel die Dörfer, und aus friedlichen Hüttendächern schwebt der Rauch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0650.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2023)