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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Die schlaue Sabine.

Erzählung von Victor Blüthgen. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Der Winter hatte in diesem Jahre ungewöhnlich hart eingesetzt. Unerlaubt früh: schon Mitte November, während er ja nach dem Kalender erst am 21. Dezember das Recht dazu hat; und dann gleich mit 8 Grad Reaumur Kälte, nachdem der Thermometer am Abend zuvor noch 2 Grad Wärme gezeigt hatte. Mitte Dezember war das klare Winterwetter in naßkaltes Schneewetter umgeschlagen, schlackrig unbestimmbar; nun hatte sich das beruhigt. Es fror, und dabei hing der Himmel schwergrau voll Schneewolken, die unablässig fast seit drei Tagen dicke, bedächtig schwebende Flocken niedersandten.

Es war Heiligabend, das heißt erst Nachmittag. In einer hinterpommerschen Kreisstadt mit Landgericht und anderen respektablen Behörden saß eine nicht mehr ganz junge, aber zweifellos hübsche Dame, mit aristokratisch geschnittenem Gesicht und ungewöhnlich klugem Ausdruck in den grauen Augen und um die schmalen tiefroten Lippen, im Wartezimmer zweiter Klasse des Bahnhofs, an der Ecke des einen langen Gasttisches. Bei ihr ein kleiner Herr mit Brille und einem glattrasierten Juristengesicht.

In der That: dieser ist der Doktor Grabbe, neben seinem Kollegen Winnemeyer der weitaus beste und beschäftigtste Anwalt am Orte; seine Nachbarin aber ist Fräulein Sabine von Rassow, eine Gutserbin „ohne Anhang“, jedoch mit einem juristischen Fragezeichen hinter der Erbschaft. Das Gut, Schlowitten, liegt ein paar Meilen ins Land hinein, und man erreicht es von hier aus vermittelst Klingelbahn und Wagen oder Schlitten.

Daß Fräulein Sabine noch unverheiratet ist, hat zwei Gründe. Erstlich war der einzige nächste Anverwandte der jungen Dame, ihr Vater, der vor einem halben Jahre gestorben, jahrelang gelähmt gewesen. Infolgedessen hatte sie sich der Wirtschaft annehmen müssen, was sie schließlich so geschickt und erfolgreich besorgte, daß sie den Landjunkern sowohl wie den Vieh- und Getreidehändlern der Gegend eine mit Grauen gemischte Bewunderung einflößte. Nicht minder unentbehrlich wie für die Wirtschaft war sie für den ziemlich eigensinnigen Patienten gewesen, der außer sich geriet, wenn er glaubte, daß sich jemand um sie bewerbe, und der sie deshalb möglichst in die Nähe seines Rollstuhles fesselte. So war ihr Verkehr nach außen hin seit Jahren auf ein Mindestmaß beschränkt.

Der zweite Grund, weshalb sich in all den Jahren kein Mann für sie gefunden, ist im vorstehenden bereits angedeutet: sie war allen, die sich der künftigen Erbin genähert hatten, zu klug, zu energisch, zu selbständig, und jene wiederum ihr zu simpel, zu ländlich natürlich und zu durchsichtig mit ihren Absichten. Ausgenommen vielleicht zwei oder drei, und diese hatte Papa, sobald er gemerkt, daß sie ihr nicht unsympathisch waren, alsbald moralisch hinausgeworfen. „Verdammte Kerls – ich brauch’ meine Tochter nötiger; und das sage ich dir: wenn du mit einem anbändelst, enterbe ich dich!“

Nun war er tot, und Sabine die „natürliche“ Erbin; nur diese, denn leider hatte Papa Rassow unterlassen, ein Testament zu machen. So konnte es kommen, daß Vetter Hans Jochen von Rassow auf Rassow ihr eines Tages in einem Schreiben höflichst mitteilte: aus gewissen im Rassower Archiv befindlichen Schriftstücken scheine mit Bestimmtheit hervorzugehen, daß Schlowitten nach Erlöschen des dortigen Mannesstammes dem Rassowschen Majorat zuzuschlagen sei, so daß er, Hans Jochen von Rassow, derzeitiger Majoratsinhaber, der eigentliche Erbe von Schlowitten sein würde. Daß Onkel, wie verlaute, kein Testament gemacht habe, müsse ihn in seiner Auffassung der Sachlage bestärken, und so beabsichtige er, was Cousine Sabine ihm nicht verdenken könne, da er die Rechte des Majorats zu wahren habe, Ansprüche auf das Gut zu erheben. Sollte sie indessen rechtserhebliche Gründe geltend machen können, die ihr das Gut zusprächen, so bäte er um gefällige Mitteilung.

Hans Jochen von Rassow genoß keines guten Rufes in Schlowitten. Er hatte sich als verschuldeter Kavallerieoffizier auf das Majorat zurückgezogen, nachdem er dafür gesorgt, daß dasselbe bis hart an den Sequester überlastet worden. Das war in der Gegend kein Geheimnis, dazu lagen die Güter einander zu nahe. Infolgedessen bekam Hans Jochen, als er seinen Besuch auf Schlowitten machte, vom Onkel so bösartig die Wahrheit zu hören, daß er beim besten Willen nicht wohl anders konnte, als sich zu empfehlen und Schlowitten zu meiden.

Sabine war damals nicht zum Vorschein gekommen, sie hatte sich auf Weisung des Vaters zurückziehen müssen.

Nach dem Tode des Alten hatte Hans Jochen, da sich inzwischen eine passende Partie für ihn nicht gefunden, Schlowitten und Sabine wieder ins Auge gefaßt. Allein bei der Wiederholung seines Besuches dort war die Cousine wiederum nicht zu Hause gewesen, und er fuhr mit der Ueberzeugung heim, daß die Tochter die feindselige Stellung zu ihm vom Vater geerbt und sich habe verleugnen lassen.

Ihre Antwort auf seinen Brief bestärkte ihn darin. Sie bedauerte sehr kühl, ihm in der beregten Sache keinerlei Mitteilung machen zu können; sie müsse ihm den Versuch überlassen, sie ihres Erbes zu berauben.

Gut. Sein Anwalt sagt ihm, daß ein Prozeß für ihn nicht aussichtslos sein würde – so klagte er.

Das ist ja doch unmöglich! sagte sich Sabine empört und fuhr in die Kreisstadt, um sich mit dem Anwalt, der schon ihren Vater beriet, zu besprechen. Der war ja im ganzen auch dafür, daß ein Verlieren des Prozesses ihrerseits nicht wahrscheinlich sei. Aber er nahm die Sache doch nicht so leicht, wie sie gedacht hatte. „Die Richter,“ sagte er und schrumpelte die Stirn über den Brillengläsern – „die Richter! Es kommt alles auf ihre Auffassung an. Aber es giebt ja im Notfall noch ein Kammergericht in Berlin und ein Reichsgericht in Leipzig.“

Fräulein Sabine von Rassow war eine resolute Person, aber den Aufregungen eines Prozesses, bei dem so viel – im Vertrauen gesagt: mehr als die Welt ahnte – auf dem Spiele stand, war sie doch nicht völlig gewachsen. Sie hatte zuvor nicht gewußt, wie so ein Prozeß aussieht! Es gab Monate mit verschiedenen schlaflosen Nächten bis zum ersten Termin – der Gegner erschien nicht, setzte durch seinen Anwalt die Verschiebung des Termins durch. Wieder eine Zeit des Wartens, ganz geeignet, um die besten Nerven mürbe zu machen. Den neuen Termin hat das Gericht auf den 24. Dezember anberaumt. Auf den Tag vor Weihnachten! Und nun solch ein Wetter!

Dagegen ist nichts zu machen. Sabine ist da, der Vetter

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0664.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2023)