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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die er diesmal den Versuch macht fester zu fassen. „Schriftlich, Vetter Rassow! Ich traue Ihnen doch nicht recht.“ Sie lacht fröhlich, ganz ungezwungen, wie es scheint, und zieht ihre Hand wieder an sich.

„Machen wir, machen wir! Famos!“ Und er holt sein Notizbuch vor, reißt zwei Blätter heraus, nimmt den Bleistift und schreibt auf das eine: „Hierdurch verpflichte ich mich, meinen Prozeß gegen Fräulein Sabine von Rassow, betreffend ihr Vatererbe, für alle Zeiten zurückzuziehen. Hans Jochen von Rassow.“ … „Wie heißt doch das Nest hier?“

„Menow,“ sagt Sabine. Innerlich schüttelt sie das Fieber dabei.

Er fügt Ort und Datum hinzu. Dann reicht er ihr den Stift und das zweite Blatt: „Nun Sie!“

Und sie schreibt mit bebender Hand die Erlaubnis für ihn nieder, sie in Schlowitten zu besuchen. Dann tauschen sie aus.

Eine tödliche Erschlaffung kommt über Sabine, als sie das Blatt eingesteckt hat, eine unheimliche Ruhe. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.

„Sind Sie nicht wohl, Cousinchen?“

Sie wehrt mit der Hand. „Nur einen Augenblick,“ haucht sie. In diesem einen Augenblick überwiegt die köstliche Gewißheit, daß sie ihre Erlösung in Händen hat und eine glückselige Zukunft dazu. Nein, man kann ihr keinen Vorwurf machen; perfid gehandelt? – Bah, eine Kriegslist war es, sie hat ihn übertölpelt, den Räuber, den halbberauschten, der im übrigen selber nicht mehr an seinen Erfolg glaubte … Und doch nagt etwas in ihr, heimlich, ganz heimlich …

Nein, die dummen Skrupel sollen schweigen.

Als sie die Augen aufschlägt, fällt ihr Blick auf den lichterblinkenden Weihnachtsbaum: die Flämmchen flattern tief niedergebrannt; angesengte Nadeln duften. Sie ist völlig nüchtern und sieht Hans Jochen von Rassow an: „Wie wäre es, Vetter, wenn Sie einmal nachsähen, ob wir nicht bald weiterfahren können?“

Und als er gehorsam gegangen ist, ein wenig schwankend, legt sie sich wieder zurück, fröstelnd – denn das Feuer im Ofen ist ziemlich ausgegangen – zieht den Pelzmantel, auf dem sie gesessen, um die Schultern und schließt wieder die Augen.

Dies fatale nagende Gefühl in der Brust! Und vor ihren Ohren spricht etwas, mit feiner Stimme: „Das ist erschlichen … ist nicht adlig gehandelt … hinterlistig, perfid … perfid …“

Die heiße Scham steigt ihr auf, vom Herzen bis in die Haarwurzeln läuft es. Und nun giebt es einen Streit hin und wider in ihr. Sie soll ihm das „Schriftliche“, das sie von ihm erschlichen, zurückerstatten; soll sich lieber wieder der Qual der Ungewißheit in die Hände geben, als ihr Gewissen beschweren.

Perfid … perfid …

„Mein Gott,“ haucht sie, „das kann doch niemand von mir verlangen, das wäre doch übermenschlich …“

Von den heruntergebrannten Lichtern löscht eins nach dem andern aus, hier und dort flammen laut knisternd die Nadeln auf, glühen, vergehen.

Unter den blinzelnden Lidern Sabinens hervor quellen langsam zwei schwere Thränen …

*  *  *

Sie sind beide bald nach Mitternacht heimgefahren, der Vetter hat sich von Sabine eine Station früher verabschiedet, ohne daß diese ihm das Papier zurückgegeben hat.

Auf der Station, wo Sabine auszusteigen hatte, haben zwei Leute die Nacht hindurch ihrethalben gewacht, ihr Inspektor und ein Bote, der, dank dem Telegraphen, rechtzeitig laufen und das heimgesandte Fuhrwerk wieder holen konnte.

Dieser Inspektor ist nach dem Tode des Vaters in den Dienst Sabinens getreten, ein schöner, stattlicher Mann mit den besten Manieren. Sabine nennt ihn „Herr von Ernsthausen“, und sie reden beide mit gedämpfter Stimme, indes sie zum Wagen gehen.

Obwohl todmüde, thut Sabine im Bett kein Auge zu. Perfid … perfid …

Gegen zehn Uhr trifft in Rassow ein reitender Bote aus Schlowitten ein und hat einen Brief an den Majoratsherrn abzugeben. Herr Hans Jochen, der eben beim Kaffee sitzt, öffnet ihn mit einiger Neugier – beim Entfalten gleitet ein Blättchen auf den Teppich: sein mit Bleistift geschriebener Verzicht.

„Aha!“

Der Brief lautet:
 „Vetter Rassow!

Sie waren gestern abend vom Punsch aufgeregt und haben, wie ich glaube, außerdem in der Erwartung gehandelt, daß Ihre Besuche in Schlowitten ein nahes Verhältnis zwischen uns ergeben könnten. Es war nicht mein guter Geist, der mir riet, Sie in dieser Hoffnung zu bestärken. Mein Herz ist nicht mehr frei. Was einigermaßen zu meiner Entschuldigung dient, ist, daß derjenige, der es gewonnen, mittellos ist und daß, wenn mir mein Erbe genommen wird, uns jede Hoffnung auf eine Vereinigung schwindet: so lag die Versuchung nahe, Ihr Vertrauen in meine Ehrlichkeit zu mißbrauchen.

Ich lege Ihren Verzicht in Ihre Hand zurück. Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Gott mag entscheiden.
Sabine.“ 

Hans Jochen von Rassow lachte einen Moment kurz und spöttisch auf, besann sich, erhob sich und setzte sich wieder. Gut also, es wird weiter prozessiert, sie will es ja haben! Und er nahm die Kaffeetasse auf, that mechanisch einen Schluck, stellte sie weg. In seinem Kopfe sprach es: Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Auf einmal schob er einen Fuß überseite und sagte für sich zwischen den Zähnen: „Eh, wenn denn doch der Winnemeyer so sehr rät, an den Prozeß kein Geld mehr wegzuwerfen …“ und in Gedanken schloß er: so will ich dabei wenigstens für meinen guten Ruf etwas herausschlagen.

Er drückt auf die Tischglocke.

„Ist der Bote von Schlowitten noch auf dem Hofe?“

„Ich glaube wohl,“ sagt der Diener.

„Esel – was heißt das? Wenn du’s nicht sicher weißt, so sieh nach! Wenn er noch da ist, soll er warten.“

Eine Stunde später hat die blasse Sabine den Bleistiftverzicht wieder und liest folgende Begleitzeilen:
 „Cousine Rassow!

Hier der Verzicht. Ein Rassow widerruft nicht, was er zugesagt hat.
Hans Jochen.“ 

Und zehn Minuten später darf der Inspektor von Ernsthausen seine Herrin küssen.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0668.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2023)