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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

einziger, ernsthafter, schlanker Buchenstamm in die Höhe mit einer prachtvollen Krone, die er königlich trug. Jetzt war diese Krone auch schon goldfarbig geworden, nur ein einziger Zweig ragte noch in sommerlicher Schönheit frisch und grün empor und triumphierte gleichsam über die andern. Diesen Baum liebte Agnete vom ersten Blick an, wie sie bis dahin nie ein belebtes oder unbelebtes Etwas geliebt hatte. Sie hatte in seiner Nähe ein seltsames, märchenhaftes Gefühl, als wenn sie einander verständen, sie erzählte ihm alles, was sie erlebte und was sie hoffte und dachte, sie konnte auch den fröhlichsten Unsinn an ihn hin plaudern, seit sie wieder jung und glückselig thöricht geworden war wie mit sechzehn Jahren. Jawohl, sie war wieder jung geworden, und das heimliche Entzücken, mit dem sie sich das sagte, war auch so jung! Sie sah die Zukunft seit einigen Tagen nicht vor sich wie eine große graue Nebelwand, die näher kommt mit leisen, gespenstigen Schritten und uns einmal in ihrem farblosen Mantel mitnehmen wird – sie sah sie vor sich wie eine wundervolle Sternennacht, in die man abends schweigend hineinsieht, in die man ungezählte, funkelnde, flimmernde Luftschlösser hineinbaut, in der man von einem unglaublichen Glück träumt und ganz wahrscheinlich findet, daß es einmal wie eine Sternschnuppe auf einen hernieder fallen wird.

Agnete war eine verschlossene Natur, sie hatte ihre Mutter nie gekannt, nie eine Freundin gehabt und hätte ihr auch nichts zu vertrauen gewußt; aber diesem Baume gegenüber konnte sie alles sagen, und wenn es dann so sachte in seinen Wipfeln rauschte, dann hatte sie immer das Gefühl, daß er ihr antwortete.

Als sie Kurt Groden kennenlernte und schon in der ersten Stunde des Zusammenseins den Zauber seines Wesens an sich empfand mit einer Tiefe und Gewalt, vor der sie selbst erschrak, weil sie nie etwas Aehnliches erlebt hatte, da hatte sie auch das „ihrem Baume“ erzählt. Er erinnerte sie oft an diesen Liebling: in der stolzen Art, wie er den Kopf trug, wie in der eigenen Klangfarbe seiner Stimme, die bei aller Wärme und Frische doch einen Anklang von liebenswürdigem Spott hatte. Sie saß jetzt ganz still am Fuße des Baumes und schloß die Augen: sie versuchte diese Stimme zu hören. Sie schalt sich selbst, wenn sie daran zurückdachte, wie alt sie sich schon vorgekommen war, wie fertig und wie abgeschlossen, wie sie in diesem Gefühl so ohne Fragen und Bedenken die täglichen Waldspaziergänge mit dem neugewonnenen Freunde unternommen hatte! Ich altes Mädchen! hatte sie halb bitter, halb wegwerfend zu sich selbst gesagt, als ihr der Gedanke zuerst befremdend erschien, sich so über das Hergebrachte hinwegzusetzen. Und jetzt? „Ich bin ja doch noch jung!“ sagte sie laut vor sich hin, mit einem rührenden Zweifel in der Stimme, „ich bin ja doch noch jung; meine Jugend hatte nur ihre Flügel zusammengefaltet, weil ich so lange im Schatten gelebt habe, und jetzt wird sie wieder fliegen lernen.“ –

Während sie so saß und träumte und von der Außenwelt nichts sah und hörte, war ein leichter, rascher Schritt näher gekommen und hielt jetzt vor ihr still.

Sie schlug die Augen auf und sprang mit einem leichten Erröten auf die Füße, während sie die Arme, wie schutzsuchend, um den Buchenstamm legte.

„Immer bei diesem Baum!“ sagte die tiefe Stimme, die sie eben in Gedanken so deutlich gehört hatte, mit einem leichten Anflug von Ungeduld, „wissen Sie, daß ich auf diesen Baum eifersüchtig bin?“

Sie schüttelte leicht den Kopf, ohne zu antworten.

„Und das nennen Sie malen?“ fuhr er strafend fort und nahm den Hut vom Kopfe, „und jagen mich seit einer Stunde umher, an allen unseren Skizzierplätzen? Mit was wollen Sie nun bestraft sein?“

Seine kecken, lachenden Augen wichen nicht einen Augenblick von ihrem Gesicht.

„Indem ich Sie belohne,“ sagte sie, verwirrt und hastig sprechend. „Sehen Sie die kleine Wiese? Dort wollte ich heute skizzieren und bin nur wieder nicht von meinem Lieblingsplatz losgekommen. Dort können Sie herrlich nichtsthun, und ich werde nun wirklich zeichnen!“ – Und wenig Minuten später waren sie beide auf der Waldwiese.

Sie saß auf einem Baumstumpf, das Skizzenbuch auf den Knieen; er lag der Länge nach im Grase und trank aus dem krystallklaren Bache der reizenden Gegenwart, als wenn er nie etwas anderes zu thun dächte.

Und daß diese Gegenwart reizend war, wer wollte es leugnen! So im herbstwarmen, goldgrünen Grase zu liegen, den Kopf auf den Armen, in das Stückchen Septemberhimmel zu blinzeln, das durch die Bäume schien, den leisen Heuduft zu spüren, der in der Luft schwamm, und nichts zu hören als den jeweiligen, leisen Fall einer überreifen Kastanie oder Nuß, die sachte auf dem Boden fortrollte, und das Glucksen und Schluchzen des kleinen Baches, der ein paar Schritte weiter fast unsichtbar durch das Waldmoos kroch und seine geheimnisvolle Geschichte vor sich hin erzählte!

Und bei alledem noch das Bewußtsein, daß zehn Schritte weiter ein reizendes Mädchen sitzt, ihr Skizzenbuch vor sich, und es verstohlen versucht, das ihr sichtlich sympathische Gesicht des Gegenübers aufs Papier zu bringen, trotzdem sie thut, als wenn sie den alten Eichbaum abzeichne – was will man mehr?

So gab sich Kurt Groden sorglos und fraglos dem Zauber der Minuten hin, eine fast zärtliche Freude an seiner Umgebung kam mit träumerischer Gewalt über ihn.

Auch er hatte sein Skizzenbuch mit sich, es lag aufgeklappt neben ihm, der Stift ein Stückchen davon, als wenn er in der bewußtesten Freude am Nichtsthun weggeschleudert worden wäre – und das war er auch.

Die beiden sprachen zunächst kein Wort, er aus elementarem Wohlbehagen an seiner augenblicklichen Situation, sie in der ungeteilten Hingabe an ihren Versuch, seinen Kopf wiederzugeben. Jetzt – jetzt hatte sie den unnachahmlichen, kecken und dabei träumerischen Ausdruck getroffen, der ihr so oft vorschwebte, wenn sie allein war, und mit einem leisen Aufatmen ließ sie einen Augenblick den Bleistift sinken.

Er hob den Kopf und stützte ihn in die Hand – ihm schwebte einen Augenblick die neckende Frage auf den Lippen: Nun, bin ich ähnlich geworden? Aber er unterdrückte sie ebenso schnell, denn er wußte, daß sie sie ihm nicht verzeihen würde.

Schon bei seiner leisen Bewegung deckte sie hastig die Hand über das Blatt und wandte den Kopf ab, aber er sah doch, daß ein tiefes Rot sich langsam über ihr Gesicht ergoß, bis unter die Haare hinauf.

Er lächelte vor sich hin und ließ dann sein Auge wieder traumverloren in die Wipfel gehen, die noch grün und sommerlich aussahen in dieser tiefen Waldstille, wo die Sonne den Weg nicht oft hin fand.

„Das ist es, was mich in der Stadt oft so unglücklich macht,“ sagte sie, ohne Einleitung oder Uebergang, wie es ihre Art war, „das Ruhelose, daß so ein Lärm den andern ablöst und man auch in der Nacht das Gefühl hat: es schläft nicht alles, und hier dies entzückende absolute Stillsein, dies Hören auf die Stille – dabei kommt man auch selbst mal innerlich zu Worte!“

„Und ganz still ist es doch auch hier nicht,“ sagte er und wies mit der Hand auf die Baumwipfel, die sich leise rauschend bewegten.

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das ist auch Stille,“ erwiderte sie lebhaft, „dies Geflüster der Bäume – vergleichen Sie damit einmal das Geschwirr und Geschrei der Menschenstimmen, das Räderrollen und Fußstapfen und alle die undefinierbaren Partikelchen, die Lärm machen! Nein – für mich ist dies Stille!“

Er sah nachdenklich aus. „Als Abwechslung, ja,“ gab er zurück, „aber als Norm für mein Leben brauche ich Bewegung, Unruhe und auch ein gewisses Durcheinander von Eindrücken, was man wohl mit ,Lärm‘ bezeichnen könnte. Denken Sie sich ein Leben hier!“

Sie sah still vor sich hin.

„Ich könnte es sehr gut aushalten,“ sagte sie dann träumerisch.

Er sah sie fest an.

Allein?“ frug er bedeutsam.

Sie wich seinem Blick unsicher aus, stand auf und klappte ihr Skizzenbuch zusammen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0731.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)