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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

den Morgengottesdienst besuchen und, um sich zu vergewissern, daß sie sein Gebot halte, fragt er sie am Abend nach der Predigt des Pfarrers.

„Er hat den Text ausgelegt,“ erwidert Pia mit einem seltsamen frommen Augenaufschlag, den sie andern Frauen abgeschaut hat: „,Jch bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.‘“

Da schaut er sie mit einem niederschmetternden Blick an, setzt den Hut auf und geht.

„An den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.“ Das schreckensvolle Bibelwort verfolgt ihn auf seinen einsamen Wanderungen.

„Und ich bin doch ein Camogasker!“ schreit er in den Sommerfrieden des Gebirges.

Und weiter, weiter laufen seine Gedanken. – Wäre er wie Pia! – Sie hat kein Gewissen. – Was sie gemeinsam an Cilgia verbrochen haben, beschwert sie nicht. – Es ist entsetzlich, zusammen mit einem Weib zu leben, das kein Gewissen hat!

Er geht, er läuft, bis der Schweiß über seine Stirne rinnt und sein Atem stockt.

Dann eilt er heim, und das Glingling seines Hammers übertönt das schwere Pochen in seiner Brust.

Was leidet er unter dem gräßlichen Heimweh nach Cilgia – nach einem guten Blick aus ihrem schönen goldbraunen Auge – nach einem ihrer Worte, die wie Sonne und Tau in seine verbitterte Seele fielen!

Es ist sonderbar: bei allem, was er thut und denkt, ist ihm, sie sehe und höre ihm zu.

Aber sie ist ja drunten in Mals bei Baron Mont – sie ist an der Straße, wo der alte und der junge Gruber mit den Säumen vorüberziehen, wenn sie vom Veltlin Waren nach dem Tirol führen.

Und wenn sie nun doch das Weib des jungen Gruber, des Gemsfallenstellers, würde? Er forscht den langen Hitz aus, der mit seinen Heuern und Heuerinnen wieder da ist.

Der sagt aber lachend: „Die – die – ich glaube, es braucht weniger Mut, des Teufels Großmutter ums Heiraten zu fragen als die. Ihr solltet sie nur einmal durchs Moor reiten sehen!“

Der Schmerz Markus Paltrams wird darum nicht kleiner.

O, er wollte, er hätte sie mit seiner elenden That so getroffen, daß sie nie einen andern lieben könnte – ihm würde der Gedanke, daß je ein anderer den Arm um die stolzen Hüften legen dürfte, das Gehirn aussengen! Nein – sie kann nie einen andern lieben – das wäre Spiegelung der Hölle – sie haben zu wundervolle Tage des Glücks miteinander verlebt! Doch das Heimweh nach den schönen Tagen brennt!

Er streift durch das Gebirge – er zieht einen Rotstein aus der Westentasche und schreibt „Cilgia“ an die Felsen. Ihm ist, als müsse sie eines Tages an diesen Stellen vorüberwandern, die Schriftzüge erkennen und zu ihm kommen und sagen: „Markus, ich bin dir noch gut!“ Warum ist er nicht nach Frankreich geflohen, sondern jenseit des Albula umgekehrt? – Er kann sich nicht von der Gegend trennen, wo sie geatmet und gelebt hat. Ihn verzehrt immer der gleiche Durst: sie noch einmal sehen!

Und sonderbar, er, der gescheite Paltram, der sonst über alles lacht, was dunkel und geheimnisvoll ist, erliegt mystischen Stimmungen.

Der Herbst ist da und Pia spricht:

„Markus – wenn du auf die Jagd gehen willst – ich kann dir am Piz Languard, wo ich die Geißen gehütet habe, einige gute Gemsenwechsel zeigen.“

„Bist du der Satan?“ donnert er, daß sie sich duckt. – Eine halbe Stunde später steht er in der Stube – mit bebenden Händen hält er sein Jagdgewehr – das Eisen funkelt – seine Augen flammen – aber er hängt das Gewehr wieder an die Wand. – Er steht in der Nacht auf und besieht sich die Waffen, wie sie im Schein der Kerzen flimmern. – Doch ihm ist’s: die erste Gemse, die er schieße, müsse Cilgia sein.

Und er läßt die Waffe ruhen. –

Einige Wochen später wird ihm ein Söhnchen geboren – ein prächtiges Kindchen mit gesunden Gliedern. Und nun spürt er doch etwas wie Vaterfreude und Erlösung.

Er muß es zur Taufe anzeigen. Da sitzt er wieder im Pfarrhaus, wo er mit Cilgia so oft gesessen hat. Die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis schauen auf ihn nieder – und die Erinnerungen foltern ihn.

Das Geschäft zwischen ihm und dem Pfarrer erledigt sich kurz und förmlich. Aber er steht noch einen Augenblick länger als nötig – er hätte sich so gern mit einem Wort nach Cilgia erkundigt – ihren bloßen Namen zu hören, wäre ihm Musik gewesen. Aber er fragt nicht – er geht. – Der Pfarrer blickt ihm gedankenvoll nach. Er hat, seit er den Schrei am verschneiten Waldesrand gehört, eine Ahnung, wie es um Markus Paltram steht.

Er kommt eben von einer mehrtägigen Reise, von einem Besuch bei Cilgia. Es geht ihr, so weit es die Erlebnisse der Vergangenheit gestatten, gut, das Schicksal hat sie auf ein Arbeitsfeld gestellt, wie man es ihr kaum angemessener hätte bereiten können.

Sie ist zu Mals, dem hübschen tirolischen Flecken an der Stilfserjochstraße, bei Baron Mont, dem Freund a Portas. Der wohl sechzigjährige Baron, ein Kauz mit den seltsamsten Ansichten, aber von seltener Güte, ein Mann, der andern jedes Wort glaubt und niemand eine Bitte abschlagen kann, hat sie in seinen Dienst genommen, damit sie ihm das lästige Briefschreiben besorge und eine Art Tage- und Rechnungsbuch über die Arbeiten auf dem großen Hochmoor führe, wo er große Torfstechereien besitzt und, um der armen Gegend durch Feldbau etwas aufzuhelfen, allerlei Bodenverbesserungs- und Anpflanzungsversuche anstellen läßt. Sie aber ergriff ihr Amt mit der ihr eigenen Lebendigkeit, und wie der Baron eines Tages von einer Reise ins Salzburgische, wo er auch Güter besitzt, zurückkehrt, legt sie ihm das Tagebuch vor. Er blättert darin, und plötzlich fesselt ihn eine mit roter Tinte unterstrichene Stelle: „Die Betrügereien, die seit sechs Jahren im Umtriebe des Moorgeschäfts nachgewiesen werden können.“ Und es folgen fast endlos kleine und große Posten, sie fallen dem Verwalter, den Zwischenunternehmern und Händlern zur Last, und alles zusammen ist eine Summe, über die dem Baron, der doch in Geldsachen nicht klein denkt, graut.

Acht Tage später hat Cilgia die Leitung des Unternehmens in den Händen, ihr Wort und ihre Unterschrift gelten wie die seine, und ein Gewitter fährt reinigend über die Heide.

„Das Frauenzimmer, das verfluchte, das immer das Papier und den Bleistift in den Händen hält!“ Die Fäuste der Arbeiter ballen sich hinter ihr, sie wünschen sie angefroren auf der Spitze des Ortlers, die auf das braune und schwarze Hochmoor herniederschaut. In ihrem grauen, rauhwolligen Kapuzenmantel kommt sie schon morgens sechs Uhr durch die dünnen blauen Nebelschwaden, die das Ried bedecken, geritten und bietet ihnen einen freundlichen „Guten Tag“. Sind sie aber nicht zur Stelle, so läßt sie ein Zeichen zurück, daß sie schon dagewesen ist, und wenn am Abend noch schnell ein unaufgeschriebenes Fuder Torf heimlich weggefahren werden soll, so sprengt sie auf ihrem Rappen gewiß noch von irgendwo heran: „Abladen – es geht keine Torfstolle vom Moor, bis sie im Herrenhause eingeschrieben ist, und dem Händler sagt, daß wir überhaupt nichts mehr mit ihm zu schaffen haben wollen!“ Und neben ihrem Pferd steht sie ruhig, bis die letzte Torfstolle wieder auf den Boden geschichtet ist.

Geht aber alles seinen ordentlichen Weg, so plaudert sie mit den Arbeitsleuten, sie setzt sich mit ihnen ans Feuer, röstet sich einen Maiskolben und erkundigt sich, während sie die Körner abrupft, nach Weib und Kind der Leute.

„Das ist anderes Latein,“ scherzte sie, als Pfarrer Taß zu Besuch kam und mit ihr über die Arbeitsstätten ritt. „Aber ich habe mich mit den Taglöhnern jetzt doch in ein recht angenehmes Achtungsverhältnis gesetzt.“

„Das habe ich im Flecken schon gehört,“ erwiderte der Pfarrer erfreut über die Munterkeit seiner Nichte.

Als sie aber am dritten Tag dem Pfarrer bis nach Münster im Bündnerland das Geleite gab, sagte sie im gemütlichen Ritt: „Ich habe den Eindruck, daß die Wirtschaft des Barons mit großen Schritten hinter sich geht – ich übersehe nicht alles, nur

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0742.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)