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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Nein,“ sage ich in voller Ueberzeugung, wie ich sein treuherziges Gesichtchen sehe, „wenn du lieb wärst, thäten sie dir nichts.“

Trudchen bleibt zu lange, ich habe keine Zeit mehr zum Plaudern. „Elschen,“ sage ich beschwörend, die Nase in ihre Stube steckend, „kümmere du dich doch eine Weile um Müthchen!“

Elschen, die sich unter dem Vorwand der Weihnachtsarbeiten immer sofort in ihre Stube zurückzieht, wie die Schnecke in ihr Haus, schreit empört auf, als ich den Kopf zur Thür hineinstecke.

„Gott, Mutter, ich sticke doch!“ Damit verbirgt sie etwas Umfangreiches unter ihrer Schürze.

Ich fürchte, sie hat wieder eine neue Arbeit angefangen zu den sechs vorigen. Wann soll das nur alles fertig werden?

In diesem kritischen Augenblicke kommt Trudchen, und Müthchen zieht beglückt mit ihr ins Kinderzimmer ab.

„Aber stellt nicht alles auf den Kopf!“ rufe ich ihnen nach.

Während ich alle Kleinigkeiten für meinen Anzug zusammentrage, horche ich zwischendurch immer einmal nach der Kinderstube.

Zuerst höre ich mit Befriedigung den üblichen, mittelstarken Lärm, dann heult Müthchen, dann folgt starkes Gepolter, und dann wird’s still. Mir ist ungemütlich zu Sinn. Doch zum Nachsehen habe ich keine Zeit, und ich gehe ins Schlafzimmer mit dem festen Entschluß, mich gegen jede Störung abzuschließen, sonst stehe ich, wenn die Gäste kommen, immer noch im Küchenkleid.

Im Schlafzimmer sieht’s lieblich aus. Alle Betten sind auseinander gerissen, und kein Stuhl zu finden. Es ist doch zu arg. Mit bösem Gesicht schau’ ich zu den Kindern hinein, aber vor dem Anblick, der sich hier bietet, ist’s unmöglich, ernst zu bleiben.

Die Stühle stehen auf dem Kopf. Ueber ihre Beine ist das Badetuch gespannt, das infolge seines hohen Alters solche Strapazen nicht mehr verträgt und überall zu platzen beginnt.

Unter diesem mit Kunst und Geschmack hergestellten Baldachin liegen auf meinem frisch bezogenen Bügelbrett, mit meiner Steppdecke zugedeckt, Trudchen und Müthchen.

„Mein Gott, Kinder, was macht ihr denn da?“

„Wir spielen Herr und Frau Knopp!“ –

Ich brauche eine ganze Weile, ehe ich mich von meinem Lachanfall erholen kann.

Müthchen ist ein großer Busch-Kenner und -Verehrer; daß dies aber solche Blüten treiben könnte, hätte ich doch nicht gedacht.

Die Ordnung wird notdürftig wieder hergestellt, und die Kinder bekommen ihre belegten Brötchen. Während sie essen, bringt die Abendpost eine Freudenbotschaft: unser Kadettchen bekommt Herbsturlaub und wird in ein paar Tagen bei uns sein.

Es herrscht allgemeiner Jubel. Elschen übernimmt das Guirlandenwinden, ich das Kuchenbacken, und Müthchen hat die abenteuerlichsten Pläne zum Empfang. Seine freudige Erregung benutze ich, um ihm unmerklich ein Kleidungsstück nach dem anderen auszuziehen. Erst, als ich ihm das Nachtkittelchen überwerfen will, kommt ihm die Ueberzeugung, daß er überrumpelt worden ist.

„Dafür mußt du mir eine Geschichte erzählen,“ sagt er diktatorisch, schon aus seinem Bettchen heraus.

Um keine Minute Zeit zu verlieren, fange ich sofort zu erzählen an. Das Märchen von Kohle, Bohne und Strohhalm, das ist hübsch kurz. „Es war einmal eine alte Frau, die …“

„Nein, die nicht,“ sagt Müthchen. „Die ist ja gleich wieder zu Ende. Lieber die vom ,Fischer und siner Fru!‘“

Darauf lasse ich mich nun wieder nicht ein, denn ich weiß aus Erfahrung, daß die Beschreibung der verschiedenen Schlösser, die die unzufriedene Fischersfrau besessen hat, mindestens eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nimmt.

Wir einigen uns schließlich auf „Goldmarie und Pechmarie.“ Müthchen hat eine entschieden realistische Richtung, denn er liebt die Stelle, wo die faule Marie mit Pech besudelt wird, am allermeisten. Ich kann gar nicht breit genug ausmalen, wie gräßlich schmutzig sie aussah, und dann kichert er vor Vergnügen und sagt jedesmal laut und vernehmlich: „Pfui Deibel!“

„So, nun wird aber geschlafen! Gute Nacht, Herzchen!“

„Gute Nacht, Mütterchen!“

An der Thür ruft er mich noch einmal zurück.

Ich bleibe zögernd stehen.

„Mutter, haben Indianer auch Kinder?“

„Natürlich,“ sag’ ich, „eine ganze Menge sogar.“

„Die sind aber gräßlich ungezogen,“ behauptet Müthchen, sittlich entrüstet.

Ich greife die Bemerkung erzieherisch auf: „Im Gegenteil, Müthchen! Die kleinen Indianerkinder sind sehr lieb und lange nicht so ungehorsam wie Müthchen.“

„Warum werden sie dann nachher so schlecht, wenn sie groß sind?“ examiniert Müthchen weiter.

Mit Schrecken entdecke ich, auf welch gefährliches Terrain ich mich begeben habe, und daß die Schläfrigkeit in Müthchens Augen wieder zu weichen beginnt.

„Nach dem Beten wird gar nicht mehr gesprochen,“ sage ich bestimmt. „Das Christkindchen fliegt jetzt um die Häuser und guckt in alle Stuben, ob die Kinder auch hübsch in ihren Bettchen liegen. Und wo eins noch plappert, da macht sich das Christkind einen dicken Strich in sein großes, goldenes Notizbuch und bringt zu Weihnachten nur eine Rute für das Plappermäulchen!“

Mit diesem glücklichen Coup schlüpfe ich hinaus, ehe Müthchen Zeit gehabt hat, mich weiter über das Notizbuch auszufragen.


Galeerensklaven!

Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold.

      (Schluß.)


Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen,“ begann Agnete nach einer kleinen Pause, in welcher Groden sie erwartungsvoll anblickte, „meine Geschichte, an der vielleicht das Traurigste ist, daß man sie nicht ,Geschichte‘ nennen darf, weil nichts darin vorgeht. Ich habe meine Eltern kaum gekannt – meine Mutter heiratete als junge Witwe einen ebenfalls verwitweten Mann in hoher Stellung und mit großem Vermögen. Sie brachte mich als sechsjähriges Kind mit in die Ehe und fand eine Stieftochter vor, die zwanzig Jahre älter war als ich und ebenso alt fast wie meine Mutter.

Wie die beiden sich vertrugen und verstanden haben, das weiß ich nicht; meine Mutter ist, wie gesagt, früh gestorben, und ich habe kaum eine Erinnerung an sie. Mein Stiefvater liebte mich sehr, er liebte mich ebenso wie seine eigene Tochter – nein, doch nicht ebenso, sonst hätte er mich besser kennen müssen. Ich habe ein frohes, glückliches junges Leben gehabt, bis zum Tode des Stiefvaters, ich war oft auf Reisen mit ihm, und meine Stiefschwester lebte viel für sich. Man kann sie ja kaum Stiefschwester nennen, denn wir haben nichts Verwandtes, keinen Tropfen desselben Blutes, keinen Tropfen, in jedem Sinn! – Als der Vater starb, fand sich in seinem Testamente die Bestimmung, daß wir beiden Schwestern in den gemeinsamen Genuß des großen Vermögens kamen, unter der Bedingung, daß wir uns nie dauernd trennten, einander nie länger als für höchstens vier Wochen verließen. Diejenige von uns, die den Anlaß zu einer Trennung gab, wurde mit einer Summe abgefunden, die zum Leben vielleicht eben hingereicht hätte, aber nicht zu einem Leben absoluten, nutzlosen Genusses, zu dem ich und sie mit Tausenden unserer Gesellschaftskreise erzogen sind. Ein Leben, das die Hände und die Kräfte nicht bindet, aber lahmlegt, das den Begriff „Arbeiten“ nur in spielerischer Art kennt, das die beste Leistungsfähigkeit in dilettantischen Kleinigkeiten zersplittert – weil wir es eben nicht anders lernen.

Und nun kommt das Kapitel in meiner Geschichte, vor dem ich mich in der bloßen Erinnerung so fürchte, so feige, so knechtisch, so rettungslos fürchte, daß ich ihm die ganze Zeit hier auch in Gedanken aus dem Wege gegangen bin. Wissen Sie noch, daß heute nachmittag in der Pension von Galeerensklaven gesprochen wurde? Dies Wort ist die Signatur meines Schicksals: so ein Galeerensklave bin ich! Ich bin mit unlösbaren Fesseln an einen Menschen geschmiedet, der mir und dem ich in jeder Minute zuwider bin, wenn ich es auch meiner unseligen Naturanlage nach viel tiefer, viel schneidender empfinde, als sie es thut. Sie ist

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0756.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2023)