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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

allen seinen Zeitgenossen den ersten Platz gewann. – Um die Ereignisse, die seine ruhmvolle Laufbahn möglich machten, würdigen zu können, ist es notwendig, auf die Besiedelungsgeschichte Nordamerikas zurückzugreifen. Die Europäer, welche während des 17. und 18. Jahrhunderts sich an der Ostküste niederließen, waren zum großen Teil Personen, die entweder vor dem Druck der mit absoluter Gewalt regiereudcn Herrscher ins Exil geflohen oder ihres Glaubens wegen argen Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren und nun in dem neuen Lande ungestört ihren Anschauungen leben wollten. Diesen an die engen Verhältnisse Englands, Hollands und anderer Teile Europas gewöhnten Leuten offenbarte sich die Neue Welt als ein Land von der ungebeuersten räumlichen Ausdehnung, und ihr Erstaunen wuchs, je weiter sie in das unbekannte Innere gelangten und dort allenthalben unermeßliche Wälder und Prairien, majestätische Ströme und Gebirge fanden.

Diese großartige Welt mußte notwendigerweise die in ihr sich Ansiedelnden mächtig beeinflussen. Die unbeschränkte Freiheit, das Fehlen jedes Zwanges stachelte unwiderstehlich die Thatkraft an, weckte die schlummernden oder unterdrückt gewesenen Fähigkeiten und verlieh vielen einen Weitblick und Wagemut, wie man sie früher nicht an ihnen wahrgenommen hatte.

Mount Vernon, der Wohnsitz Washingtons.

Besonders der die wichtigste Einnahmequelle der Kolonien bildende Pelzhandel rief eine neue, eigenartige Klasse von Menschen hervor, die kühn sich von den an den Küsten entstandenen Ansiedelungen loslösten und mit der Büchse in der Faust abenteuernd in die geheimnisvolle amerikanische Wildnis eindrangen. Schon während des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts erschienen derartige Pelzhändler und Jäger an den Gestaden der großen Binnenseen. Wenige Jahrzehnte später durchstreiften sie Wisconsin, um von dort aus ihre Jagdzüge zum Mississippi und über denselben hinaus bis zu den Felsengebirgen auszudehnen.

Diesen Pionieren der Kultur folgten später Ansiedler, welche in der endlosen Wildnis die ersten festen Wohnsitze schufen. Ihr Los war ein nicht minder hartes; erforderte ihr Vormarsch doch ebensoviel Mut, Ausdauer, Körperkraft und Entsagung, als je von den abenteuersuchenden Helden der Vorzeit aufgewendet werden mußte. Für jene kühnen Naturen lag aber gerade ein Zauber in dem Gefährlichen ihrer Lage, in dem Bewußtsein, daß ihr Leben einzig und allein von der Schärfe ihrer Augen, der Schnelle und Festigkeit der Hand und von der Richtigkeit des Urteils abhing. Dies Gefühl ist es ja, was den echten Mann mit Stolz und Selbstvertrauen erfüllt und ihm fort und fort neue Thatkraft verleiht. Und so war die amerikanische Wildnis das Reich, in dem die Trapper und Ansiedler sich zu jenem wahren Heroengeschlecht ausbildeten, das von Cooper und anderen Romandichtern mit so viel Liebe verherrlicht worden ist.

In der Mitte dieser Leute, die sich alles selber schaffen, erbauen und schützen mußten und deren Geist nicht durch Ueberlieferungen und Gewohnheiten aus vergangenen Jahrhunderten beirrt wurde, mußte das Verlangen nach Selbstverwaltung, nach Selbstregierung notwendigerweise entstehen. Und in der That, die Geschichte jeder an den Grenzen der Civilisation und inmitten der Wildnis entstandenen Niederlassung berichtet, wie die Ansiedler zusammentraten, sich selbst ihre Beamten wählten und Gesetze gaben. Von diesen freien Gemeinwesen aus verbreitete sich der Geist der Unabhängigkeit über alle an der Ostküste gelegenen Kolonien, wo viele Abkömmlinge alter europäischer Geschlechter saßen, die sich durch Ahnenstolz, hohes Selbstbewußtsein, waffenkundiges Wesen und die Eifersucht kennzeichneten, mit der sie über ihre alten Rechte wachten. Mit tiefem Unmut sahen diese Leute, wie die englische Regierung allen Bemühungen der Kolonien um Selbstverwaltung hindernd in den Weg trat, während sie die Ortschaften mit Schwärmen von Beamten überschwemmte, von denen die meisten, infolge verschwenderischen Lebens in der Heimat bankerott geworden, nur herüberkamen, um ihre zerrütteten Finanzen wieder aufzubessern und sich auf Kosten der Ansiedler zu bereichern.

Die letzteren hatten triftige Gründe zu noch anderen Beschwerden: die von den englischen Beamten geübte Rechtspflege war höchst willkürlich, die Steuern äußerst drückend und insofern ungerecht, als den Kolonien die beständig nachgesuchte Vertretung in der gesetzgebenden Körperschaft, dem Parlament, verweigert wurde. Als die englische Regierung schließlich in thörichter Selbstsucht dazu schritt, gar die Verfassungen und Freiheiten der Kolonien zu bedrohen, schlugen die schon lange glimmenden Funken zu hellen Flammen empor. Es kam, als alle schriftlichen und mündlichen Proteste unbeachtet blieben, zu blutigen Zusammenstößen, zur Rebellion.

Washingtons Begräbnisstätte zu Mount Vernon.

Das ganze heiße Verlangen der Amerikaner nach Selbständigkeit fand seinen Ausdruck in Patrik Henrys trotzigem Ruf: „Give me liberty or give me death!“ „Gebt mir Freiheit oder den Tod!“ Derselbe fand einen mächtigen Wiederhall in den Herzen sämtlicher Kolonisten. Die große Zeit erzeugte große Gedanken und große Männer. Sie brachte neben vielen anderen einen Henry Lee, Benjamin Franklin, Roger Sherman, John Adams, Robert Livingstone und Thomas Jefferson hervor, die gemeinsam den Ruf „Los von England!“ erhoben und am 1. Juli 1776 im Staatshause zu Philadelphia dem dorthin einberufenen Kolonialkongreß die Unabhängigkeitserklärung unterbreiteten, dasjenige Dokument, welches unter allen jemals geschriebenen politischen Schriftstücken von der machtvollsten Wirkung auf die Zustände und Fortschritte der Kulturvölker

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0781.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)