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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

gewesen ist. Gleich die zu Anfang desselben niedergelegten Erklärungen waren von einer alle bisherigen Anschauungen umstoßenden Bedeutung: Es sei eine erwiesene Wahrheit, daß alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unantastbaren Rechten ausgestattet seien. Unter diesen befinde sich das Recht zum Leben, Freiheit und das Streben nach Glück und Zufriedenheit. Zur Sicherung dieser Rechte seien Regierungen unter den Menschen eingerichtet, welche ihre rechtmäßigen Befugnisse von der Zustimmung der Regierten ableiten. Und weiter wurde erklärt, daß, wenn immer irgend eine Regierungsform diesen Endzwecken nachteilig werde, das Volk das Recht habe, die Regierung zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und deren Grundlagen auf solche Grundsätze zu legen und ihre Gewalt in solcher Form zu organisieren, wie sie dem Volke zur Herbeiführung seiner Sicherheit und Wohlfahrt am geeignetsten und wahrscheinlichsten dünken.

Die Verhandlungen über dies denkwürdige Schriftstück währten mehrere Tage. Draußen drängte sich ungeduldig eine tausendköpfige Menge und richtete die Blicke erwartungsvoll nach dem Turm des Staatshauses, ob nicht bald der Klang der dort hängenden Glocke gemäß ihrer prophetischen Aufschrift „Proclaim liberty throughout the land unto all the inhabitants thereof!“ dem Lande und seinen Bewohnern die Freiheit verkündigen werde.

Stunden auf Stunden verrannen. Als endlich aber, am 4. Juli zwei Uhr nachmittags, die Glocke mächtig ertönte, da ging ein Brausen und Frohlocken von Massachusetts bis hinab nach Georgia, und jedermann fühlte: der Tag der Freiheit war gekommen!

Hatte die Unabhängigkeitserklärung in Thomas Jefferson einen an Schärfe des Geistes nicht zu übertreffenden Verfasser gehabt, so fand sie in dem am 22. Februar 1732 geborenen George Washington einen ebenso bedeutenden Vollzieher. In ihm, der zeitlebens die Freiheit der Berge und Wälder Virginiens geatmet, der im Kampf mit wilden Tieren und Indianern groß geworden, konzentrierte sich der ungestüme Drang seiner Landsleute nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Pflanzer von Beruf, wurde er jetzt durch die Macht der Umstände ein Soldat, ein Führer im Kampf, der dem ihm übertragenen Werk in glanzvoller Weise zum Erfolge verhalf.

Die ersten Proben seiner kriegerischen Tüchtigkeit hatte Washington bereits während des Krieges von 1755 bis 1763 gegeben, der von den Engländern und Franzosen zum großen Teil auch in Amerika ausgefochten wurde und daselbst einen geradezu grauenhaften Charakter annahm, als die Gegner die ihrem Einfluß zugängigen Jndianerstämme zur Anteilnahme an dem Kampfe aufhetzten. In jenen schließlich mit dem Untergang der französischen Herrschaft in Nordamerika endigenden Kämpfen hatte Washington es zum Befehlshaber der von der Kolonie Virginien gestellten Truppen gebracht und sich so ausgezeichnet, daß, als der Kolonialkongreß zu der Ueberzeugung gelangte, nur ein Appell an die Waffen könne die Selbständigkeit der Kolonien herbeiführen, sich aller Augen auf Washington richteten. Als dieser den ihm angebotenen Oberbefehl über die von den gesamten Kolonien aufgebrachte Armee übernahm, betonte er, daß er sich der gestellten Aufgabe keineswegs gewachsen fühle, die Annahme des hohen Postens aber als Pflicht betrachte, da die Wahl einstimmig auf ihn gefallen sei. Das vom Kongreß bewilligte Gehalt von 500 Dollars monatlich schlug er aus und beanspruchte nur die Rückerstattung seiner direkten Auslagen.

Während des acht Jahre währenden, außerordentlich wechselreichen Krieges kamen die Vorzüge Washingtons zu vollster Geltung. Gab er sich während der Belagerung von Boston, der Verteidigung von New York und während seines durch kühne Schläge gegen den verfolgenden Feind ausgezeichneten Rückzugs durch New Jersey als einen Meister in militärischen Schachzügen zu erkennen, so zeigte er sich während der trübsten Epoche des ganzen Krieges, dem im Lager zu Valley Forge verbrachten Winter 1777 auf 1778, als ein Mann, der sich weder durch Mißgeschick noch Ungemach entmutigen läßt.

Kaum ein zweiter hätte es vermocht, die Waffen der jungen Republik durch eine solche Fülle von Widerwärtigkeiten und Gefahren zum Siege zu führen. Er vor allen anderen besaß die notwendige Festigkeit des Charakters, den sorgfältig erwägenden und praktischen Verstand, die absolute Selbstverleugnung, den Adel der Gesinnung, den hohen Mut und das nie verzagende Vertrauen auf das schließliche Gelingen des großen Werks. Und nicht zuletzt auch das gänzliche Verzichten auf persönliche Vorteile, auf Befriedigung des eigenen Ehrgeizes. Wäre Washington von letzterem erfüllt gewesen, so hätte er sich ohne einen Gewaltstreich zum Diktator, ja zum König machen können. Dafür war gegen Ende des Krieges die Lage die denkbar günstigste. Der Krieg hatte dem Lande nicht bloß 70000 Mann gekostet, sondern auch eine Schuldenlast von 135 Millionen Dollars aufgebürdet. Es fehlte dem Kongreß an Geld und Kredit, um selbst die dringendsten Verpflichtungen zu erfüllen. Infolge der unvermeidlichen hohen Besteuerung herrschte allenthalben Notstand und Mißmut; unter den Truppen, die seit Monaten keinen Sold erhalten hatten, sogar Erbitterung gegen den Kongreß. Ueberall sehnte man sich nach einer starken Hand, welche das Steuer übernehme und den ungeregelten Zuständen ein Ende mache. In jener Zeit entstand in der Armee eine von vielen hervorragenden Offizieren unterstützte Strömung für den Plan, an Stelle der aussichtslosen Republik eine Monarchie aufzurichten und Washington die Königswürde anzubieten. Dieser aber wies, als die Offiziere ihm ihren Plan schriftlich unterbreiteten, das Angebot in der nachdrücklichsten Weise zurück und erklärte, daß man ihm, nachdem er jahrelang für die Unabhängigkeit des Landes gestritten, keine schmerzlichere Ueberraschung als diese habe bereiten können. Man könne keine Person finden, die weniger geneigt sei, auf ein solches Anerbieten einzugehen, und er vermöge nicht zu verstehen, wie irgend eine seiner Handlungen die Offiziere dazu habe ermutigen können, ihm mit einem solchen Vorschlage zu nahen.

Eine solche Denkweise konnte ihre Wirkung nicht verfehlen. Als endlich 1782 der langwierige Krieg beendet war und Washington nach Rückgabe seines Oberbefehles sich auf den von seinem älteren Bruder geerbten Landsitz Mount Vernon am Potomac zurückzog, hatte er sich im Herzen seines dankbaren Volkes einen unerschütterlichen Platz erobert.

Trotz der Abgeschiedenheit seines Wohnsitzes blieb Washington der Mittelpunkt des damaligen politischen Lebens innerhalb der Union. Fast mit allen einflußreichen Persönlichkeiten stand er in Briefwechsel, und sein stattliches Haus, in welches er im Jahre 1759 Martha Custis, eine junge Witwe, als Ehegemahl eingeführt hatte, wurde nie leer von Gästen, die in diesen oder jenen Angelegenheiten seinen Rat suchten. Infolge dieses beständigen Gedankenaustausches mit den hervorragendsten Männern des Landes erlangte er eine solche Vertrautheit mit allen Vorgängen auf dem Gebiete der Politik, daß sein Urteil für immer weitere Kreise maßgebend wurde und oft den Ausschlag gab. Als der Anstoß zur Revision der Bundesverfassung gegeben wurde und im Mai 1787 die Abgeordneten der Einzelstaaten in Philadelphia zusammentraten, um die noch heute gültige Verfassung festzusetzen, erschien es aller Welt natürlich, daß Washington den Vorsitz über jene wichtige Versammlung führe. Sein Name schwebte auch auf jedes Mannes Lippen, als man zur Errichtung einer Nationalregierung schritt, die aus einem aus Abgeordneten aller Staaten zusammengesetzten Bundeskongreß und einem die vollziehende Gewalt darstellenden Präsidenten bestehen sollte. Grenzenloser Jubel erscholl, als die vom Volke erkorenen Wahlmänner im Februar 1789 zusammentraten und aus ihrer Wahlurne der Name George Washingtons mit Einstimmigkeit als derjenige des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika hervorging.

Die Kunde seiner Erwählung empfing Washington in Mount Vernon. Er hatte das hohe Amt keineswegs gesucht und seinen Freunden gegenüber oft den Wunsch ausgesprochen, daß es nicht auf ihn fallen möge. Nachdem dies dennoch eingetreten war, hielt er es zum zweiten Male für seine Pflicht, dem dringenden Rufe der Nation zu folgen. Bevor er sich zur Reise nach New York anschickte, wo die Einführung in das Amt erfolgen sollte, lenkte er noch einmal seine Schritte nach der einfachen Witwenklause seiner von ihm hochverehrten Mutter. Es war ein Abschied

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0782.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)