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Johann Heinrich Pestalozzi.

Ein Blatt zur Einweihung des Pestalozzi-Denkmals in Zürich.
Von Oswald Heidegger.
(Mit dem Bilde S. 813.)

Die goldene Oktobersonne ringt siegreich mit den Vormittagsnebeln, die über den Straßen von Zürich und dem schönen Stromband der Limmat wogen. Da erheben, obgleich die Stadt das Kleid des Werktags trägt, von allen ihren Türmen die Glocken ihr Zusammenspiel. Aus der ehrwürdigen Kirche der ehemaligen Fraumünsterabtei bewegt sich schlicht feierlich ein Zug von etlichen hundert Männern, Behörden, Bürgern und Gästen der Stadt. Sie ziehen zur Weihe eines einfachen Standbildes, das sich frisch vollendet aus den Baumgruppen vor dem Linth-Escher-Schulhause erhebt. Rede und Gesang, auch das helle Jugendlied einer blühenden Schar von Knaben und Mädchen umklingen es, und nun steht es eingefügt in das reiche Bild der stolzen Stadt und begrüßt die Gäste, welche vom Bahnhof kommen, gleich nachdem sie die ersten hundert Schritte gegen den lachenden See gegangen sind.

In lebenswarmer Einfachheit redet das Erzbild, ein Werk des jungen Luzerner Bildhauers H. Siegwart, von schlichter Liebesthat.

Ein schon auf der Höhe der Jahre stehender Mann, dessen kummergebeugte Gestalt, dessen gramvolle Züge sich eigentlich sehr wenig zur bildnerischen Darstellung eignen, dessen Angesicht nichts als ein Strahl unendlicher Herzensgüte verklärt, neigt sich freundlich und milde zu einem armen hungernden Kinde, das er am Wege gefunden hat. Und von der liebenden Hand berührt, erhebt es sein Auge zutrauensvoll zu dem Retter und Helfer.

Das ist das Denkmal. Und jeder, aus welchem Land der Erde er komme, hemmt seinen Wanderschritt vor der bescheidenen Gruppe und grüßt das im Baumkreis ragende Bild. Denn am syenitenen Sockel des Monuments steht der Name „Johann Heinrich Pestalozzi“, ein Name, der nicht nur Zürich, nicht nur der Schweiz sondern der Bildungsgeschichte der Welt angehört.

Indem Zürich Pestalozzi das Denkmal errichtete, hat es eine alte Ehrenschuld an seinen berühmtesten Sohn abgetragen, und das Werk erscheint um so sympathischer, als es einem Manne gilt, der nie für sich, sondern stets nur für andere gekämpft und gelitten hat.

„Schon lang’,“ so schreibt er, „ach, seit meinen Jugendjahren wallte mein Herz wie ein mächtiger Strom einzig und allein nach dem Ziele, die Quellen des Elends zu verstopfen, in das ich mein Volk versinken sah.“ Ueber dem Suchen nach diesem Ziel ist er der Begründer der allgemeinen Volkserziehung geworden, die das ausgehende 19. Jahrhundert für eine der köstlichsten unter seinen vielen Errungenschaften hält.

Die allgemeine Volksschule! – Diese Idee ist heute in den vorgeschrittenen Ländern so in Fleisch und Blut der Bewohner übergegangen, daß wir ihre Verwirklichung und ihren Bestand als etwas durchaus Selbstverständliches hinnehmen, daß wir ein gewisses Maß der Bildung, die alle Schichten des Volkes durchdringt, für die unerläßliche Grundlage eines gesunden Staatslebens halten und das Ansehen einer Nation nach den Opfern bemessen, die sie für diesen Zweck bringt.

Im 18. Jahrhundert aber gab es noch keine Volksschule, sondern der Unterricht der Jugend der Städte war ein totes Buchstabenwesen. Das Volk der Landschaft wuchs vollends in Unwissenheit und Verwilderung auf. So war es in der Schweiz, so in den übrigen Ländern.

Da kam Pestalozzi und lebte mit armen Kindern wie ein Bettler, „um sie wie Menschen leben zu machen.“ Das war im Jahre 1774. Aber was für ein Martyrium hat er nicht ein halbes Jahrhundert lang um den Gedanken der sittlichen und wirtschaftlichen Hebung des Volkes erlitten! Nie ist ein Ringender mehr verhöhnt und verketzert worden als er, und es mutet wahrhaft wehmütig an, daß ihm kaum ein ahnungsvoller Blick auf die Segenssaat beschieden war, die aus seinem Leben voll Selbstverleugnung und Kümmernissen erwachsen ist.

Nicht in der Heimat, die ihn heute stolz den Ihrigen nennt, sondern in der Ferne, nicht in den Niederungen des Volkes, denen die Sorge seines Herzens galt, sondern auf den Höhen der Gesellschaft hat man zuerst die Tragweite seiner Erziehungsgedanken erkannt und in den Dienst des nationalen Aufschwungs gestellt.

Die Nächsten sahen an Pestalozzi nur seine Mißerfolge. Denn aus lauter Mißerfolgen ist der letzte große Erfolg, wie er in dem blühenden Volksschulwesen der Gegenwart zu Tage liegt, hervorgegangen.

Sie kamen aus der Natur und dem Wesen Pestalozzis selbst. Nie ist ein genialer Mann weniger imstande gewesen als er, die herrlichen Erkenntnisse des sinnenden Geistes für die Lebenswirklichkeit fruchtbar zu gestalten, das Gold des Gedankens in die Gebrauchsmünze des Alltags umzusetzen. Sonnenhafter innerer Erleuchtung widersprach eine verwunderliche Ungeschicklichkeit und Hilflosigkeit in der praktischen Durchführung, und daraus hat sich sein fast tragisches Schicksal geprägt.

Er ist gleichsam der Bauherr, der sein Werk in Visionen sah, der in rührender Liebe und bis zum Lebensende die Steine dafür zusammentrug, aber sie selbst nicht hat fügen können. Ausgebaut haben den Dom andere, doch ist kaum ein Stein daran, der nicht sein Zeichen trüge.

Pestalozzi wurde im Jahre 1746 in einem düstern Hinterhaus der wallumgürteten Stadt Zürich geboren; er wuchs als Halbwaise, „ein Weiber- und Mutterkind“, zwischen der Mutter und einer Magd empor, die ihn, um die Höschen zu sparen, nur selten zu den Gespielen auf die Gasse gehen ließen. Als er die Schule besuchte, galt er für blöd, die mit ihm aufwachsende Jugend rief ihn mit dem Spottnamen „Hansheiri Wunderli von Thorlikon“, und er war in seiner großen Gutmütigkeit der Narr aller. Dazu unordentlich und nachlässig und mehr mit einem merkwürdigen Traumsinn als mit der Neigung für ein verstandesmäßiges Erfassen der Dinge begabt. Doch ging er später durch die höheren Schulen Zürichs, und die Lektüre Rousseaus übte einen tiefgreifenden Einfluß auf den zum Manne heranreifenden Jüngling, der sich unter Einwirkung der Rousseauschen Bücher für das Bauernleben entschied.

In der Zeit dieses Entschlusses erlebte er ein wunderbares Glück. Der in seiner Gesichtsbildung häßliche, in seinem Wesen unordentliche junge Mann fand in einer hochsinnigen Nachbarstochter, der feinen und schönen Anna Schultheß, eine Gattin, die mit ihm wie ein gottgesandter Engel durch die bitteren Stunden und Jahre des Lebens ging. Er kaufte eine große Strecke Heideland beim Dorfe Birr im Aargau und baute darauf ein anmutiges Landhaus, den „Neuhof“. Allein bald erfüllte sich das Schicksal, das die Mutter der jungen Frau Pestalozzi prophezeit hatte: „Du wirst mit Wasser und Brot zufrieden sein müssen“. Die bäuerlichen Unternehmungen des jungen phantasiereichen Städters schlugen, wie jedermann erwartet hatte, fehl.

Da, im Jahre 1774 – wer kennt die Gedankengänge einer genialen Seele? – mitten in bitterer Not, kam Pestalozzi auf den sonderbaren Plan, 30 bis 40 verlaufene, heimatlose, von den Eltern schlecht versorgte Bettelkinder zu sammeln und sie in seinem Heim bei Unterricht und Arbeit zu tüchtigen Menschen zu erziehen. Sechs Jahre hielt er, von philanthropischen Freunden etwas unterstützt, die Armenanstalt auf seinem verschuldeten Gut. Dann kam die schwere Zeit, wo er und seine in Wohlstand aufgewachsene Gattin kein Brot mehr im verpfändeten Hause hatten.

Was nun in dieser herzzerschneidenden Armut? – Jedesmal, wenn Pestalozzi im Elend fast ertrank, erwachten seine erhabensten Gedanken. In der bittersten Trostlosigkeit schrieb er im Hause eines Freundes zu Zürich „Lienhard und Gertrud“, eines jener litterarischen Werke, die auf Sturmesflügeln die Länder und die Herzen eroberten. Das in hinreißendem Gemütston geschriebene Buch, das jetzt noch fast Jahr um Jahr neue

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0815.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)