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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie gehorchte willenlos wie ein Kind. Es war so neu und so süß, sich umsorgt und behütet zu wissen, mitten in dem großen, fremden Berlin.

Der Wagen kam nur langsam vorwärts, es war ein Laufen und Drängen in den Straßen, ein Hin- und Herschieben von Handwagen und Karren, daß die Fuhrwerke oft in langer Reihe minutenlang stillstehen mußten.

Aber heute vergaßen selbst die Droschkenkutscher das Fluchen; ein jeder war angesteckt von der allgemeinen Fröhlichkeit, überall gab’s lachende Gesichter.

Leute, die sonst gewiß nichts tragen mochten, gingen heute mit Paketen beladen; Püffe und Stöße wurden als etwas Selbstverständliches ohne den geringsten Aerger hingenommen; Kinder trippelten an der Hand Erwachsener daher, selige Erwartung in den großen Augen, und über allem wirbelten und tanzten die Flöckchen, schufen die Wandernden zu lebendigen Schneemännern um und verliehen selbst den nüchternsten Mietskasernen einen Schimmer von Eigenart und Eleganz.

Die beiden jungen Menschen waren unversehens in die fröhlichste Weihnachtsstimmung hineingeraten, lachten und plauderten und sahen so glücklich aus, daß manch einer der Vorübergehenden ihnen in Neid oder Freude nachblickte.

Als sie an der Ecke der langen strahlenden Friedrichstraße ausstiegen, um die „Linden“ herunter zu Fuß in den Tiergarten zu wandern, da war Assessor Berger völlig eingeweiht in Fräulein Klärchens Familienverhältnisse, und diese wieder wußte so Bescheid auf dem Gutshofe seiner Eltern, als sei sie von Kind auf dort ein- und ausgegangen.

Beim Aussteigen bot er ihr den Arm. „Sie gehen sicherer,“ redete er ihr fast väterlich zu, als er ihr Zögern bemerkte.

Da legte sie still ihr Händchen auf seinen Arm.

Fast ohne eigenes Zuthun wurden sie von der wogenden Menge weiter gedrängt und geschoben und atmeten erleichtert auf, als sie durch das Brandenburger Thor in die dämmernde Stille des Tiergartens kamen. Es war des Lärms und der Lichter fast zu viel gewesen im Gewühl der Straßen.

Wie durch einen Zauberschlag standen sie nun inmitten der Märchenpracht des Winters. Der Schnee hatte allen Bäumen eine phantastische Form gegeben, schimmernde Pfeiler und Spitzbogen schienen in eine unendliche Einsamkeit zu locken, und die sonst so plumpe Viktoria der Siegessäule schwebte geheimnisvoll hoch über dem träumenden Winterreich, als käme das Christkindlein selber vom Himmel geflogen, um seinen Geburtstag einmal wieder auf Erden zu begehen.

Klärchens plauderlustiger Mund war verstummt. In unbewußter Hingabe lehnte sie sich fester auf des Assessors stützenden Arm, während ihre Gedanken in die Heimat flogen, um wie zwitschernde Schwalben ein vor der Zeit ergrautes Haupt zu umkreisen.

Das war wohl jetzt über die Bibel geneigt und las aus dem Weihnachtsevangelium manches heraus, was nur für die einsam alternde Frau zwischen den Zeilen geschrieben stand: zitternde Nachklänge einer schönen, längst versunkenen Zeit und schüchterne Sonnenstrahlen einer Zukunft, die von einer reinen, von blondem Haar umrahmten Mädchenstirn ausgehen sollten.

„Mutter, ach, Mutter –“ es stieg ihr wie ein Schluchzen in der Kehle herauf, und sie war doch lange nicht so glückselig gewesen wie heute. Sie hätte immer so weiter gehen mögen ins schlafende Land hinein, immer weiter fort von all den Menschen, nur von dem einen nicht, der so sicher neben ihr dahin schritt.

Auch dem Manne war’s eigen zu Mute. In übermütiger Laune hatte er sich in das kleine Weihnachtsabenteuer gestürzt: das junge Ding, das sich so ruhig seinem Schutze anvertraute, hatte ihm nur ein paar leere Stunden ausfüllen, den einsamen Abend mit seinem Geplauder beleben sollen, und nun war’s ihm, als fiele von dieser Christnacht ein breiter Schein wärmenden Lichtes in seine Zukunft hinein, als habe ihm das Christkind nie eine seligere Gabe beschert als diese kleine, an Arbeit gewöhnte Hand, die so hingebend auf seinem Arm lag.

„Klärchen …“

In jähem Schreck suchte sie sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Und wie er für das, was in seiner Seele erwacht war, schlichte, innige Worte tiefster Ueberzeugung fand, widerstrebte sie nicht mehr, sondern legte ihr weinendes Gesicht mit dem Ausdruck seligen Geborgenseins an seine Brust.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0823.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)