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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nun gerade, nun erst recht wollte ich gegen Herrn Harrang freundlich sein; Tante sollte sehen, daß ich ihm gefiel, Tante, die alles besser wußte, konnte und machte als ich, die immerfort in meiner Gegenwart gelobt und gepriesen wurde, als wenn ich gar nichts wäre! Sie sollte es sehen und merken, daß in einem Dinge ich ihr doch himmelweit überlegen war: ich war jung, und sie konnte es nie wieder werden! Und in mich konnte sich deshalb ein großer Künstler verlieben, in sie nicht – merken sollte sie’s!

Was dann schließlich daraus wurde, darauf kam es ja augenblicklich noch nicht an, und ich brauchte nicht gleich einen Entschluß zu fassen, aber fühlen sollte sie, daß wir Jungen es sind, denen die Welt gehört. Am liebsten sollte sie uns gerade überraschen, wenn Herr Harrang vor mir kniete. Es war mir auf einmal, als ob dieser Triumph fast das beste von der ganzen Sache sein würde, denn dann konnte ich mich niemals wieder klein neben Tante fühlen, wie ich es jetzt zu meinem Aerger so oft that.

In den nächsten Tagen war ich sehr nett gegen Herrn Harrang – sehr! und er gefiel mir immer besser und besser und war sehr aufmerksam gegen mich. Einmal brachte er mir ein Heft Vorlagen für Brandmalerei. An einem anderen Tage bat er wieder um das Brahms’sche Duett, welches wir diesmal auch wirklich sangen, obgleich es noch nicht völlig sicher ging, und zur nächsten Sitzung brachte er mir dann einen Band reizender bayrischer Volkslieder mit Goldschnitt. Zweimal schenkte er mir auch Bonbons in einer eleganten Schachtel und ein anderes Mal eine ganze Menge Ansichtskarten. Kurz, es wurde mir von Tag zu Tag offenbarer, daß Anneliese sich nicht geirrt hatte.

Ich kann es nicht leugnen, ich wurde innerlich sehr aufgeregt. Ich sagte mir, nun müßte ich mich bald entscheiden, ob ich Ja oder Nein sagen wollte, und das war doch nicht so leicht, wie man denken sollte. Aber immer deutlicher sagte es nach und nach in mir: „Ich thu’s!“ – wenigstens bei Tage, wenn die Sonne schien. Nur manchmal in der Nacht, wenn ich unvermutet aufwachte, war es mir auf einmal, als wenn alles weit von mir zurückweiche und nur die anderen jungen Augen aus der Ferne zu mir herübersähen, und ich sagte unwillkürlich laut zu mir: „Nein!“ Und merkwürdig war es, dann fühlte ich mich immer so ruhig und leicht. Anneliese sagte ich nichts davon, denn sie sah ich ja immer nur am Tage, und ihr mußte ich versprechen, daß, wenn ich heiratete, sie mich in München besuchen dürfte, wohin sie immer gern einmal gewollt hatte.

Endlich zeigte uns Herr Harrang auch, was er gemalt hatte. Ich war aber sehr enttäuscht, denn es schien mir unbegreiflich, daß er zu dem Wenigen, was bis jetzt auf der Leinwand stand, so viel Zeit hatte brauchen können. Ich hatte mir vorgestellt, einem großen Künstler ginge die Arbeit schneller von der Hand. Auch Tante schien erstaunt. Doch Herr Harrang sagte, der erste Entwurf wäre mir nicht ähnlich geworden, deshalb hätte er noch einmal neu begonnen. Aehnlich wurde dieses zweite Bild, das sah man, so wenig fortgeschritten es auch bis jetzt war. Nun ging es aber auch schnell damit vorwärts, und er zeigte uns die Arbeit jetzt jeden Tag.

Tante war seltsam in dieser Zeit; sie wurde immer stiller. Manchmal hatte ich sie auf einmal schrecklich lieb. Das war in solchen Augenblicken, wo ihr Gesicht den sonderbar sanften, fast wehmütigen Ausdruck annahm, den es mitunter hatte. Nie tadelte sie mein lebhaftes Wesen, nur mitunter sah sie mich so still an, wenn ich sehr liebenswürdig gegen Herrn Harrang war, aber sobald ich es bemerkte, wandte sie die Augen ab. Ich fühlte wohl, ich gefiel ihr nicht besonders, aber nie sagte sie etwas.

Natürlich mochte es ihr nicht ganz angenehm sein, zu sehen, wie die Jugend triumphierte.

Eines Tages kramte ich in Tantes Bücherschrank, der schrecklich viel langweiliges Zeug enthielt, und da machte ich eine große Entdeckung. Ich fand Tantes Gesangbuch, ein hübsches, in schwarzen Samt gebundenes Buch mit silbernen Beschlägen, und auf dem ersten Blatte stand unter einem Bibelspruch:

„Meiner lieben Renate zur Konfirmation
 von ihrer treuen Mutter.“

Darunter das Datum. Oh! – wer hätte es glauben sollen! nimmermehr wäre ich, so wie Tante aussah, darauf verfallen! Ich rechnete wieder und wieder nach, zweimal, dreimal, aber es war nicht anders möglich, nach der Jahreszahl mußte Tante, wenn sie, wie es Brauch war, mit fünfzehn konfirmiert war, siebenunddreißig Jahre zählen!

Siebenunddreißig – sage und schreibe siebenunddreißig Jahre! Und dabei trug sie Kapotthüte mit Rosen und helle Sommerblusen und – und – ja und sah so aus, als wenn sie einunddreißig wäre!

Ich fand es förmlich empörend, geradezu eine Art von Betrug. Mit siebenunddreißig ist man doch eine alte Jungfer, wenn man dann noch nicht verheiratet ist, und muß sich auch so kleiden; so gehört es sich! Es war lächerlich, sich dann noch so zu gebärden, als wenn man alle möglichen Ansprüche an das Leben zu stellen hätte. Ich war ganz einfach außer mir, und als ich nachher wieder mit Tante zusammen war, schien sie mir auf einmal viel älter und lange nicht so anmutig auszusehen wie sonst. Die einzelnen weißen Fäden in ihrem Haar mußten doch jedem auffallen, der nur sehen wollte, und wenn man recht zusah, bemerkte man auch zwei oder drei Runzelchen, ja man konnte sie gar nicht übersehen, auch wenn man wollte.

„Was siehst du mich so an, Kind?“ sagte Tante freundlich. „ist etwas an mir unordentlich?“ und sie strich sich mit der Hand über das Haar.

„Nein, Tante, ich dachte nur, du hast doch eigentlich schon recht graues Haar.“

„Nun, nun,“ sagte Tante und strich noch einmal über ihren welligen Scheitel, „bis jetzt sind es ja wohl nur erst einzelne Silberfädchen!“

„Aber man sieht sie doch sehr, Tante. Soll ich sie dir ausrupfen?“

Tante schüttelte leise den Kopf. „Laß mich nur in Ehren grau werden, Helmikind, sie würden ja doch wohl wieder nachwachsen. – Ja, jünger wird man leider nicht mit der Zeit,“ und dann seufzte sie, wie unwillkürlich, ganz leise, und der feine Ausdruck von Wehmut kam wieder.

Ich fühlte wohl, es war nicht schön von mir gewesen. das zu sagen, aber ich kann es nun einmal nicht ausstehen, wenn man sich jünger macht, als man ist.

Das war die erste große Entdeckung des Tages. Nachmittags aber kam eine zweite, die war noch viel verblüffender, ja, ich kann wohl sagen, noch empörender. Anneliese kam nämlich, um mich zu einer Bootfahrt abzuholen; durch beharrliches Betteln hatte sie die Erlaubnis erlangt, daß wir selbst rudern durften. Als wir an den Strand kamen, sahen wir jemand dort sitzen und malen, und wir unterschieden schon von ferne, daß es Herr Harrang sein mußte.

„Still,“ sagte Anneliese leise, „er soll uns nicht anreden; ich habe einen so unkleidsamen Hut auf, daß er sich bei seinem fein entwickelten Schönheitssinn darüber entsetzen würde. Laß uns so gehen, daß er uns den Rücken zuwendet. Oder willst du gern mit ihm sprechen?“ und sie sah mich schalkhaft an.

„Ach, bewahre!“ sagte ich wegwerfend, obgleich ich in Wahrheit Anneliese, die uns seit dem Picknick nie wieder zusammen gesehen hatte, sehr gern einmal den Beweis geliefert hätte, daß ich nicht übertriebe, wenn ich sagte, er wäre liebenswürdig gegen mich. „Ach, bewahre – was liegt denn mir daran? Ich sehe ihn oft genug, beinahe zu oft!“

„Du wirst aber schrecklich rot.“

Natürlich wurde ich rot, aber ebenso natürlich leugnete ich es ab. Wir schwiegen also still, damit er nicht aufmerksam auf uns werden möchte, obgleich ich überzeugt war, daß Anneliesens Hut ihm ganz gleichgültig sein würde.

Da der Pfad aber schmal war, mußten wir Herrn Harrangs Rücken fast streifen, und dabei warfen wir selbstverständlich einen Blick auf das Bild, an dem er malte.

In demselben Augenblick entschlüpfte uns beiden gleichzeitig ein Laut der Ueberraschung.

Denn was stellte das Bild dar? Meine Tante Renate, lässig und anmutig – ich kann kein anderes Wort finden, obgleich sie so alt war – in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, die Hände leicht verschränkt, den Blick träumerisch, fast wie sehnsüchtig, in die Ferne gleiten lassend, so, ganz so, wie ich sie im Garten hatte sitzen sehen, während Herr Harrang malte und erzählte; in demselben einfachen, hellen Kleide. Nur der Hintergrund war anders. Das Meer bildete ihn, und über das strahlende Wasser hin flogen die weißen Möwen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0878.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)