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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nervenschutz und Nervenstärkung überhaupt miteinander vereinen? Was könnte, was sollte, was müßte geschehen – wie müßten wir selbst, wie müßte unsere Umgebung sich verhalten – in welchem Milieu, nach welchen Grundsätzen müßten wir leben, um unsere Nerven zu schützen – und wie, um sie zu stärken?

Fangen wir mit dem „Nervenschutz“ an, so scheint es freilich auf den ersten Blick, als könne der Einzelne zu diesem Zwecke überhaupt nichts oder doch recht wenig ausrichten, und als seien wir den tausendfachen und millionenfachen Plagen und Schädigungen, die den übercivilisierten heutigen Daseinsformen nun einmal untrennbar anhaften, in dieser Hinsicht fast machtlos und rettungslos überliefert. Vielleicht müßte demnach der Staat, dem man ja in unserer Zeit alle möglichen Obliegenheiten zuweist und in dessen Pflichtenkreis ja bekanntlich gerade die Beschützung der Schwachen in erster Reihe gehören soll, auch das Schutzamt über die schwachen Nerven offiziell übernehmen? An Anlaß dazu würde es gewiß nicht fehlen; hat doch vor nicht langer Zeit in öffentlicher Reichstagssitzung einer unserer höchsten militärischen Beamten die Ablegung der bisherigen Nervosität im öffentlichen Interesse dringend befürwortet! Thun könnte der Staat ja vielleicht manches in diesem Sinne – aber was er thäte oder durch seinen Behördenapparat, vor allem durch die hochlöbliche Polizei in dieser Richtung thun ließe, würde sich vermutlich in den meisten Fällen kaum eines ungeteilten Beifalls zu erfreuen haben. Von dieser Art staatlich-polizeilicher Fürsorge bekommen wir ja dann und wann einen kleinen Vorgeschmack, und wir danken es der fürsorglichen Behörde in der Regel recht schlecht, wenn sie z. B. zum Schutze unserer bedrängten Nerven dem nächtlichen Treiben in gewissen Vergnügungslokalen oder der Entfaltung des Sportlebens auf öffentlichen Verkehrswegen strengere Grenzen zieht, oder wenn sie uns durch sorgsame Uebung der präventiven Theatercensur und durch gründliche Reinigung der Bahnhofslektüre vor gefährlichen Aufregungen pflichtmäßig behütet. Zu dieser Beschützung von Staats wegen läßt sich nun einmal kein rechtes Vertrauen gewinnen. So bleibt denn der Einzelne – und die aus diesen Einzelnen sich zusammensetzende Gesellschaft – auch hier, wie bei so vielen anderen Dingen, auf den langsamen und beschwerlichen, aber sicherer zum Ziele führenden Weg der Selbsthilfe ausschließlich angewiesen. Um ihn mit Erfolg zu betreten, ist es freilich unerläßlich, das Uebel selbst genauer zu kennen und seinen Ursachen, seinen Erscheinungen, den zur Abhilfe gebotenen Maßregeln ein gewisses Verständnis entgegenzubringen.

Nun scheint die Erlangung dieses Verständnisses ja auch keine besonders schwer erfüllbare Aufgabe zu sein. Im Gegenteil! – bilden doch die nervösen Schwächezustände, um die es sich hier vorzugsweise handelt, und ihre Bekämpfung ein allbeliebtes Modethema, worüber die meisten Bescheid zu wissen glauben, nachdem sie so schrecklich viel davon gehört und gelesen haben. Wie es mit diesem Gehörten und Gelesenen seiner Beschaffenheit nach zumeist bestellt ist, und was die auf solche Weise eingesogenen Kenntnisse demzufolge für einen thatsächlichen Wert haben und haben können – darum pflegt sich die ungeheure Mehrzahl in der Regel blutwenig zu kümmern. Es ist für den Kundigen geradezu mitleiderregend, aus was für abgestandenen, trüben und sumpfigen Quellen Unzählige ihren Durst auf den Gebieten der Gesundheits- und Krankheitslehre Tag für Tag löschen, und was für vergiftete und ekelhafte Gebräue sich ihnen zur Befriedigung dieses Durstes betrügerisch anbieten. Naturheilschriften von ehemaligen Schlossern, Tischlern, Barbieren u.s.w. werden in vielen Tausenden, ja in Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt und gelesen; die oft den hellen Wahnwitz atmenden medizinischen Offenbarungen von Heilmagnetiseuren und Somnambulen, Hygieïsten und Hygieinologen, von Gesundheitsaposteln aller möglichen Sorten, von Schäfern und Seelenhirten aller Konfessionen werden von unserem sonst so „aufgeklärten“ Publikum mit stupender Wundergläubigkeit hingenommen. Es ist ja durchaus natürlich und menschlich, daß jeder um das, was ihm das Wichtigste und Teuerste ist, die Erhaltung und Herstellung seiner Gesundheit, sich eifrig bekümmert. Gegen das Streben an sich ist gewiß nichts einzuwenden – desto mehr aber, wie gesagt, gegen die der Zeitrichtung entsprechende, überhastete und vielfach bedenkliche Art seiner Befriedigung. Der Altmeister ärztlicher Wissenschaft und Kunst, Hippokrates, hat seinen „Aphorismen“ den vielcitierten Weisheitspruch vorangestellt: „Die Kunst ist lang, das Leben kurz, die Erfahrung ist trügerisch, das Urteil vorschnell.“ Nun, wie „trügerisch“ die Erfahrung noch immer ist, davon wissen auch wir Aerzte der heutigen Zeit, trotzdem wir es nach der Meinung mancher so herrlich weit gebracht haben, gerade so gut wie der Koische Weise vor 2300 Jahren ein Wörtchen zu sagen; und wie „vorschnell“ das Urteil ist, darüber läßt uns das Publikum durch seine ebenso ungerechten wie schonungslos geäußerten Kritiken unseres ärztlichen Könnens und Wissens auch heute zuweilen nicht im unklaren. Darf man sich da über die Früchte wundern? Darf man sich wundern, daß das Publikum selbst in seinen vermeintlich „höchsten“ und „gebildetsten“ Schichten in allen sanitären und hygieinischen Fragen eine bedauerliche Unwissenheit oder ein oft noch viel bedauerlicheres Falschwissen und „Besserwissen“ bekundet? – und daß ihm insbesondere auch auf dem Gebiete des Nervenlebens selbst die elementarsten Anforderungen einer vernünftigen Nervendiätetik und Nervenhygieine nur zu oft vollständig fremd sind?

Gehen wir also etwas näher auf die Fragen ein: Was sind „gesunde“ und „kranke“, was sind „schwache“(oder geschwächte) Nerven? und was muß der auf Schutz und Stärkung seiner Nerven Bedachte im Interesse der Erhaltung und Herstellung eines normalen Nervenlebens thun und vermeiden?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit dem die gesamte Gesundheits- und Krankheitslehre beherrschenden Begriffe der Reizung, der Reizauslösung und Reizwirkung einigermaßen bekannt machen.

Alle, die winzigsten wie die größten, die unscheinbarsten und alltäglichsten wie die ungewöhnlichsten Vorkommnisse des inneren und äußeren Lebens wandeln sich, indem sie auf das unendlich feine Nervengeflecht unseres Organismus treffen, für uns in Reize und wirken als solche nervenreizend, nervenerregend. Die Gesamtheit dieser durch die Pforten der Sinnesnerven unablässig eingehenden und durch die höheren, komplizierten Apparate des centralen Nervensystems ebenso unablässig verarbeiteten Reizeindrücke bildet das Material, liefert die zahllosen Bausteine, aus denen sich in unserem Innern allmählich und unbewußt ein Weltgebäude musivisch zusammenfügt, wie unter den Klängen von Amphions Leier die Steine zur thebanischen Mauer geordnet zusammenrückten. In der Bewältigung dieser unabsehbaren Massen von inneren und äußeren Eindrücken, in ihrer Aneignung, Unterbringung, passenden Einordnung und Verknüpfung ist gerade eine der Hauptfunktionen des menschlichen Nervensystems und die wesentliche Grundlage jedes höheren Seelenlebens zu suchen. – Wirken nun also die äußeren und inneren Vorgänge auf unseren Organismus in der Form nervenerregender Reize, so rufen sie demgemäß entsprechende Gegen- und Folgewirkungen, Reizwirkungen, Reaktionen im Nervensystem hervor, deren Stärke, Ausbreitung und Verlaufsweise durch zwei Umstände wesentlich bedingt wird. Einmal natürlich durch die Art und Beschaffenheit der auslösenden Reize; sodann aber, hiervon ganz abgesehen, auch durch die gegebene besondere individuelle Beschaffenheit und Veranlagung des reizaufnehmenden Nervensystems selbst. Eben in dieser individuell so außerordentlich verschiedenen Stärke und Ablaufsweise der vom Reiz erzeugten Gegenwirkungen, der Reaktionen, auch bei ursprünglich ganz gleichartiger Beschaffenheit der auftreffenden Reize – eben hierin liegt im tiefsten Grunde das Geheimnis des Individuums, der Persönlichkeit als solcher; eben hierin aber auch, gerade im Hinblick auf Nerven- und Seelenleben, das Geheimnis von Gesundheit und Krankheit, von Stärke und Schwäche, Leistungsfähigkeit und Erschöpfung. Es giebt nun eine ansehnliche – und in unserer Zeit in bedenklichem Maße stetig anwachsende – Zahl abnorm veranlagter Persönlichkeiten, bei denen diese Vorgänge nicht in der gewöhnlichen, dem Durchschnitt entsprechenden Weise sich abspielen, vielmehr das Verhältnis zwischen Reiz und Reizwirkung mehr oder weniger erheblich verändert und in einer für den Bestand der körperlichen und geistigen Integrität ungünstigen Weise gestört ist. Dieses „Gestörtsein“ bezieht sich, um das nochmals ausdrücklich hervorzuheben, nicht bloß auf das den veränderten Nervenfunktionen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0882.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2018)