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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

zusammenfällt und eine Katastrophe hereinbricht, die in vollendeter Zerstörung alles körperliche und geistige Leben unter ihren Trümmern verschüttet. Freilich müssen zu dem Zwecke oft schwere und schmerzliche Opfer gebracht werden! Ich rechne dahin nicht in erster Reihe die materiellen Opfer – so schwer auch diese wohl oft ins Gewicht fallen – sondern noch weit mehr die ideellen, wie lange, oft jahrelange Trennung von Haus und Familie, Auseinanderreißung der nächsten Angehörigen, Ortswechsel, Reisen, unerwünschte Anstaltsaufenthalte, vorübergehende oder selbst dauernde Verzichtleistung auf Thätigkeit und Berufstellung. So schmerzlich das alles ist, die Forderung ist unerbittlich und macht sich, je länger man ihre Erfüllung hinausschiebt, nur um so ungestümer und unaufhaltsamer geltend. Es ist da wie mit dem Kaufpreis der sibyllinischen Bücher. Wohl dem also, der rechtzeitig nachgiebt, und der sich freilich auch in der günstigen Lage befindet, diese Nachgiebigkeit ohne allzu drückende Einbuße materieller und ideeller Art üben zu dürfen!

Ein die Heilung besonders erschwerender und oft vereitelnder Uebelstand ist weiterhin der, daß gerade Nervenkranke in einem überaus hohen, alle anderen Kranken bei weitem übertreffenden Prozentsätze unwissenden Pfuschern und Charlatanen in die Hände geraten und so statt vernunft- und naturgemäßer Behandlung zum Gegenstande roher und betrügerischer Ausbeutung werden. Es ist nicht ganz leicht, den Ursachen dieser befremdenden Erscheinung nachzuspähen, zumal oft sehr verschiedenartige Umstände dabei zusammenwirken. Es ist doch von vornherein kaum begreiflich, daß selbst hochgebildete und auf der gesellschaftlichen Stufenleiter hochstehende Personen sich Schwindlern und Betrügern schlimmster Sorte blindlings verschreiben und diesen Leuten mit einer Hingebung und Vertrauensseligkeit gegenüberstehen, von der sie dem Arzte niemals die geringste Probe zu liefern bereit wären. Zum Teil wirkt dabei das von anderen Leidens- und Schicksalsgenossen gegebene Beispiel und deren natürlich jeder wissenschaftlichen Basis ermangelnde kritiklose Empfehlung; zum Teil spielt dabei auch der Einfluß der Verwandten und Angehörigen mit, namentlich der so leicht und leider so oft an unrechter Stelle sich begeisternden weiblichen Familienratgeber; zum Teil endlich sind es die schon früher geschilderten suggestiven Wirkungen der Lektüre, der magische Einfluß von bedrucktem Papier in der Form von Zeitungsreklamen, Prospekten, Cirkularen, Broschüren und jener ganzen Schundlitteratur, die sich unter dem Aushängeschild sogenannter Naturheilverfahren oder unter der Ankündigung neu erfundener Heilmethoden, mit verblüffenden Titeln und Illustrationen und mit allerlei mehr auf die Phantasie als auf den Verstand wirkenden Reizmitteln dem vertrauenden Publikum anbietet. Die schlauen Verfasser dieser Geistesprodukte kennen oder befolgen wenigstens sehr genau das Goethesche Wort, daß, wenn man die Welt betrügen will, man es „nur nicht fein“ machen muß; und je gröber sie es treiben, desto größer scheint nur die Zahl der Gimpel zu werden, die ihnen ins Garn laufen. Wie vollkommen sie ihren Zweck erreichen, dafür hat, was die Behandlung Nervenkranker durch Pfuscher und Quacksalber anbetrifft, der Verfasser der vorerwähnten kleinen Schrift, Dr. Engler, einen interessanten statistischen Beitrag geliefert. Nach seinen Berechnungen muß man annehmen, daß ungefähr neunzig Prozent der Nervenkranken sich keiner geordneten ärztlichen Behandlung unterziehen, höchstens gelegentlich einmal einen Arzt befragen, ohne jedoch seinen Ratschlägen zu folgen. Und doch bedürften, aus den schon erörterten Gründen, Nervenkranke noch weit mehr als andere eines ständigen, zuverlässigen, ärztlich hygieinischen Beraters und Führers. Daß bei einem solchen vielerlei nur selten in der wünschenswerten Vereinigung auffindbare Eigenschaften zusammentreffen müßten, ist für die Auswahl eines solchen Ratgebers selbst unter Aerzten häufig genug ein erschwerender Umstand. Liebe zur Wissenschaft und Humanität, Takt, Gewandtheit, Welterfahrung, Energie, Ausdauer, Charakterstärke, Begeisterung – ein hochgesteigertes Wissen und Können müssen sich dazu die Hände reichen. Und derartige Eigenschaften soll man beim Kurpfuscher voraussetzen, dessen Betrieb höchstens den Spürsinn und die Pfiffigkeit des „geriebenen“ Geschäftsmannes erwarten läßt, der auch mit den Mitteln eines solchen zu arbeiten gezwungen ist und in Ausübung seines Gewerbes auf den Charakter als Gentleman nicht selten schon im voraus verzichtet? Auch selbst die einzelnen Besseren, Begabteren und Uneigennützigen unter den zahllosen Mitgliedern dieser Gilde müssen trotzdem Schaden stiften, weil es ihnen ganz und gar an der unumgänglichen wissenschaftlichen Schulung gebricht – ein Mangel, der selbst durch die hervorragendste praktische Befähigung nur in sehr unvollkommener Weise ersetzt wird.

Man sollte meinen, das alles müßte sich gerade den in mancher Beziehung so empfindlichen, so fein- und scharfsinnigen Kranken dieser Art ganz besonders aufdrängen. Aber weit gefehlt! Der blinden Vorliebe dieser Kranken für jede Art von Kurpfuschertum entspricht nur der ebenso blinde und unbegreifliche Widerwille so vieler von ihnen gegen jede ärztliche Einwirkung und Behandlung. Unzählige Nervenkranke sind gegen alles, was Arzt heißt, nicht bloß von Abneigung, sondern von einer fast als wahnsinnig zu bezeichnenden Erbitterung erfüllt: man kann das nur mit der Erbitterung vergleichen, wie sie Geisteskranke, die ja im Grunde auch nur Nervenkranke erster Klasse sind, gegen die sie behandelnden Aerzte so oft an den Tag legen. Es ist das in der That auch nichts als eine „fixe Idee“. Die absurdesten Verleumdungen und Anschwärzungen ärztlicher Thätigkeit durch Wort und Schrift von kurpfuscherischer Seite werden von diesen Verblendeten auf Treu und Glauben hingenommen und bereitwillig nachgesprochen, z. B. die kindische, aber trotz ihrer Abgeschmacktheit immer wieder aufgewärmte Behauptung, daß die „Schulmedizin“ alle Krankheiten fast nur mit Arzneien oder vielmehr mit „Giften“ kuriere – wobei die nämlichen Kranken, die diesen Unsinn nachbeten, sich von den Wundermännern ihres Vertrauens lächerliche und zum Teil ekelhafte Kräutermischungen und Absude als vermeintliche Allheilmittel unter pomphaften Titeln für teuren Preis aufschwatzen lassen!

Alles das muß man häufig mit ansehen, ohne abhelfen zu können; denn auf Kranke dieser Art durch Belehrung umstimmend, überzeugend einzuwirken, ist in der Regel unmöglich – oder es gelingt erst, wenn ein schweres Lehrgeld bezahlt, wenn es für den Erfolg schon zu spät ist.

Aber die Nervenkranken leiden nicht bloß allzuoft unter ihren eigenen Fehlern, sondern fast ebensosehr unter den Fehlern ihrer Umgebung. Zu einem richtigen Verkehr mit Nervenkranken und vollends zu einer angemessenen Pflege gehört neben vielem anderen ein hohes Maß von Einsicht, Selbstverleugnung und Geduld, wie es dem Durchschnitt der Menschen versagt ist und wie es natürlich auch die nähere und fernere Umgebung dieser Kranken höchstens ausnahmsweise darbietet. Die schwersten und schädlichsten Begehungs- und Unterlassungssünden sind hier ganz alltäglich. Auf der einen Seite werden die Kranken durch eine übertriebene Rücksichtsnahme verwöhnt und verhätschelt; ich erinnere nur an die oft ganz unverzeihliche Duldsamkeit so vieler Eltern und an die bekannte Schwäche der Ehemänner von hysterischen Frauen, die den Aerzten die Durchführung ihrer Aufgaben so unendlich erschweren. Auf der anderen Seite findet man leider auch das Gegenteil: übertriebene Strenge und Härte, Lieblosigkeit der Eltern, ja mitunter förmlichen Haß gegen ihre belasteten, mangelhaft begabten oder geradezu schwachsinnigen und idiotischen Nachkommen, deren Existenz sie als einen beständig lastenden Vorwurf und als eine ihrer Selbstliebe zugefügte Kränkung schmerzlich empfinden. Ich habe davon oft genug traurige Beispiele beobachtet.

Am allerschlimmsten ist es aber, wenn von einer thörichten Umgebung die Leiden und Klagen der Nervenkranken als „eingebildet“ betrachtet werden, wenn man ihnen die Rolle der „malades imaginaires“ zuweist und kurzweg Beherrschung, Ueberwindung ihrer Leiden von ihnen verlangt – eine Forderung, die so unbillig und unvernünftig ist, als wenn man von einem fiebernden Typhuskranken forderte, sein Fieber durch eigene Anstrengung zu überwinden, und deren Erfüllung ganz und gar der Münchhausenschen Leistung des Sichherausziehens am eigenen Zopf gleichkommen würde!

Auch das so oft empfohlene „harte Anfassen“ der Nervenkranken ist nur zum kleinsten Teile berechtigt, insofern diese Kranken allerdings wie Kinder einer festen Haltung und Führung zu ihrem eigenen Schutze nicht selten bedürfen. Dagegen darf von wirklicher Härte ihnen gegenüber doch niemals

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 888. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0888.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2020)