Seite:Die Verfassung der Republik Estland (1937) Seite 03.png

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Aus der Ideenwelt der neuen Verfassung Estlands.


Von Jüri Uluots,[1]
Professor an der Universität Tartu, Präsident der Ersten Kammer der Nationalversammlung.


In der Gegenwart befinden sich die Grundideen über das soziale und politische Leben der Völker im Zustand der Gärung. Alte Ideen haben vielerorts neuen Platz machen müssen, die neuen Ideen sind aber nicht überall siegreich. Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, eine Verfassung zu schaffen, die die rechtlichen Grundlinien des gesamten Volks- und Staatslebens bestimmen soll.

Der vorliegenden Schwierigkeiten war man sich in der die neue Verfassung Estlands schaffenden Nationalversammlung von vornherein bewußt. Umso interessanter ist es zu fragen, wie sich schließlich die Ideenwelt der neuen Verfassung gestaltet hat.

Zu Ende des Weltkrieges schien ein Zeitabschnitt anzubrechen, in dem jedes lebenskräftige Volk die politische Selbständigkeit auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker anstreben kann und in dem die Streitigkeiten zwischen den Völkern und Staaten auf friedlichem Wege, insbesondere mit Hilfe des Völkerbundes, geschlichtet werden.

Dagegen sind in der letzten Zeit Ideen aufgetaucht, die die Entscheidung über das Schicksal der Völker mit anderen Mitteln herbeizuführen versuchen. Die Verfassung Estlands ist der Idee der Selbstbestimmung der Völker unerschütterlich treu geblieben. Und man will das Selbstbestimmungsrecht nötigenfalls bis zur letzten Möglichkeit verteidigen; dementsprechend sind die Vorschriften über die Staatsverteidigung verhältnismäßig ausführlich gestaltet worden.

Die aus langen Zeiträumen sich ergebenden Lebenserfahrungen der Völker lehren, daß Gesetz und Recht die wichtigsten Grundlagen der staatlichen Ordnung sind. Die Verfassung Estlands bleibt dem alten Grundsatz treu, daß Gerechtigkeit, Gesetz und Freiheit die Grundlagen des Staates sein müssen. Dementsprechend kann die gesamte Staatsgewalt nur auf Grund der Verfassung und der mit dieser in Einklang stehenden Gesetze ausgeübt werden, wobei die Gerichte mit allen eine Rechtsprechung sichernden Hilfsmitteln ausgestattet sind. Denselben Grundsatz der Legalität bringt die gesamte Verfassung in ihren Vorschriften zum Ausdruck, weshalb diese Vorschriften in vieler Beziehung ausführlicher sind, als dies gewöhnlich in Verfassungen der Fall ist.

  1. * 13. Januar 1890 in Kirbla, Gemeinde Lihula; † 9. Januar 1945 in Stockholm.