Seite:Die Verfassung der Republik Estland (1937) Seite 04.png

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Die Ideen des Individualismus und des Liberalismus, die vom 18. Jahrhundert bis zum Weltkriege siegreich waren, befinden sich in den letzten Jahrzehnten in einer heftigen Auseinandersetzung mit anderen Ideen. Die neue Verfassung Estlands ist den Grundsätzen des Individualismus und des Liberalismus treu geblieben, wie sich deutlich aus dem zweiten Hauptstück dieser Verfassung ersehen läßt. Jedoch werden die Rechte und Freiheiten, in denen diese Grundsätze zum Ausdruck gelangen, nicht als dem Menschen als solchen angeboren, sondern als aus der staatlichen Gemeinschaft entspringend betrachtet. Deswegen stehen sie dem Bürger zu, der in der entsprechenden staatlichen Gemeinschaft lebt, sie weisen Beschränkungen im Interesse derselben Gemeinschaft auf, und ihnen entsprechen aus den Bedürfnissen derselben Gemeinschaft sich ergebende Pflichten und Lasten. Mithin versucht die neue Verfassung, die Ideen des Individualismus und des Liberalismus in der Richtung sozialer Solidarität im Rahmen des Staates weiter zu entwickeln.

Die Idee der Demokratie oder der Volksherrschaft, die vom 18. Jahrhundert bis zum Weltkriege siegreich war, wird in den letzten Jahrzehnten von verschiedener Seite heftig angegriffen. Die neue Verfassung Estlands ist den Grundsätzen der Demokratie treu geblieben. Jedoch muß die demokratische Staatsgewalt bei der Betreuung der Lebensinteressen der Völker in ihrem Wesen ebenso effektiv und schmiegsam sein wie jede andere. Daher ist auf Grund derselben Verfassung der nach dem Willen der Volksmehrheit handelnde Apparat der Staatsgewalt mit allen Vollmachten ausgestattet, die zum Schutz des inneren und äußeren Friedens und zur Gewährleistung des gesellschaftlichen Fortschritts und des allgemeinen Nutzens der Nation erforderlich sind.

Im 18. Jahrhundert entstand die bekannte Lehre von der Gewaltenteilung, die später die Gestaltung der Staaten wesentlich beeinflußt hat. In letzter Zeit tauchen aber Ideen auf, nach denen die ganze Gewalt einheitlich und zentralisiert sein soll. Die neue Verfassung Estlands bejaht den Grundsatz der Gewaltenteilung. Dementsprechend umgrenzt sie ausführlich und möglichst genau die Zuständigkeit eines jeden einzelnen Staatsorgans. Gleichzeitig sorgt diese Verfassung jedoch mit peinlicher Sorgfalt dafür, daß kein Staatsorgan abgeschnitten oder isoliert von der übrigen Apparatur der Staatsgewalt dasteht, sondern daß jedes Organ im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit sich in ständiger Zusammenarbeit mit allen anderen Organen befinden möge. Dementsprechend befindet sich in der Hand des Volkes die höchste Staatsgewalt, wie sie in der Erfüllung der in der Verfassung vorgesehenen Funktionen sich äußert. Vom Volk hängt die Gestaltung der Volksvertretung und in Zusammenarbeit mit der Volksvertretung die Bestimmung des Präsidenten der Republik ab. Die Volksvertretung besteht aus zwei Kammern, wobei die erste Kammer unmittelbar und die zweite mittelbar vom Volk gebildet wird. Beide Kammern arbeiten zusammen auf dem Gebiet der Gesetzgebung, des Staatsvoranschlages und auf sonstigen in der Verfassung bezeichneten Gebieten. Beide Kammern halten sich gegenseitig im Gleichgewicht und stehen zugleich in einer bestimmten Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Republik und mit der Regierung der Republik.