Seite:Die Verfassung der Republik Estland (1937) Seite 05.png

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Der Präsident der Republik ist der Träger der Einheit der Staatsgewalt und in allen wichtigen Fragen des Staatslebens von entscheidender Bedeutung. Doch befindet sich der Präsident der Republik bei der Erledigung aller wichtigeren Fragen in Zusammenarbeit mit der Volksvertretung, mit der Regierung der Republik, mit dem Staatsgericht und mit dem Oberbefehlshaber des Heeres. Die Regierung der Republik ist vor allem der tatsächliche Inhaber der vollziehenden Gewalt, wobei sie in eine Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Republik, mit der Volksvertretung und mit einem engen Netz territorialer und berufständischer Selbstverwaltungen hineingestellt ist. Die Tätigkeit der sonstigen in der Verfassung vorgesehenen Organe der Staatsgewalt ist ebenfalls auf dem Grundsatz der Zusammenarbeit mit den übrigen Staatsorganen aufgebaut. Mithin ist das Prinzip der Gewaltenteilung in der Verfassung in logischer Folgerichtigkeit bis zum Prinzip der Zusammenarbeit weiterentwickelt worden, und beide Prinzipien bilden zusammen eine organische Ganzheit und das Gleichgewicht in der Organisation der gesamten Staatsgewalt.

Aus dem Vorhergesagten ist ersichtlich, daß bei der Schaffung der neuen Verfassung Estlands eine bestimmte Auswahl unter den auf die rechtlichen Grundlagen des Staatslebens bezüglichen Ideen der Gegenwart stattgefunden hat. Man könnte annehmen, daß diese Auswahl als Ergebnis einer subjektiven Beurteilung erfolgt ist, ohne daß objektive Tatsachen berücksichtigt worden wären. Eine solche Annahme wäre jedoch nicht zutreffend.

Von frühesten Zeiten bis zum heutigen Tage sind die Esten ein Volk gewesen, das seine politische Freiheit geliebt und diese Freiheit bis zur letzten Möglichkeit mit der Waffe in der Hand verteidigt hat. Dementsprechend ist in der Verfassung das Recht auf Selbstbestimmung und die Entwicklung der Staatsverteidigung besonders hervorgehoben worden.

Desgleichen sind die Esten ein Volk, das vom Gefühl des Rechts und der Gerechtigkeit tief durchdrungen ist, und das die Ungerechtigkeit unter allen Umständen beseitigen will. Deshalb haben die Prinzipien der Legalität und des gerichtlichen Schutzes einen so charakteristischen Ausdruck in der ganzen Verfassung gefunden.

Zugleich sind die Esten ein Volk, das, dem allgemeinen Grundzug seines Charakters entsprechend, der persönlichen Tätigkeit stark zuneigt, weniger der kollektivistischen, das aber doch beim Vorhandensein einer Sphäre persönlicher Freiheit für ein friedliches Zusammenleben sehr geeignet ist. Dadurch erklärt sich der Schutz des individualistischen Prinzips in der Verfassung sowie die Entwicklung desselben in der Richtung der sozialen Solidarität.

Wirtschaftlich, ihrer Bildung nach und gesellschaftlich ist die Bevölkerung Estlands verhältnismäßig einheitlich und liebt, ihrer alten Tradition entsprechend, ihren Beruf und ihr Arbeitsgebiet. Dementsprechend hat die Verfassung das ganze Staatsgebäude zum Schutz der schaffenden Arbeit des Volkes auf der Idee der Demokratie aufgebaut.

Endlich ist Estland hinsichtlich seiner sozialen Institutionen ein Land mit einer sehr alten und ehrwürdigen Vergangenheit, besonders bemerkenswert durch das enge Netz seiner örtlichen, territorialen und