Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 34 02.jpg

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Mahle saßen, und durch die Fugen und die offene Fensterluke hatte der Höhenwind ungehinderten Zutritt.

Neben solchen Behausungen sind die Schutzhütten des Alpenvereins freilich Paläste, und man wird verstehen, daß ich nicht erstaunte, als ein Hirt und seine Tochter, die mich einst in der neuen Regensburger Hütte, angesichts der Geißlerspitzen (im Grödener Thale), aufsuchten und um die Erlaubnis baten, das Innere der Hütte zu besichtigen, vor dem Eintritt die pfundschweren, groben Nagelschuhe von den Füßen streiften und nur barfuss den wohnlich ausgestatteten Raum zu betreten wagten.

Den Abstieg haben wir nach Turnerweise, und da kein besorgter Führer unseren Uebermuth zügelte, querfeldein laufend und springend ausgeführt, durch kniehohes Gestrüpp von Alpenrosen, Preisel- und Heidelbeeren und Haidekraut. Nur ab und zu wurde Halt gemacht, um eine Handvoll blauweißer, duftender, hochreifer Heidelbeeren zu pflücken, die eine ungewöhnliche Größe hatten. Die Praxis belehrte uns gleichzeitig darüber, daß die Beeren der Alpenrose und die Preißelbeeren einander zwar sehr ähnlich sehen, aber sehr verschieden von Geschmack sind. Durch schönen Wald erreichten wir auch glücklich die Straße wieder und hielten in der Nachmittagsgluth unseren Einzug im „Albergo Dante Alighieri“ in Madonna di Campiglio. Im „Grand Hotel des Alpes“, welches im Sommer und Herbst sehr besucht zu sein pflegt, herrschte Todtenstille und alle Thüren und Fenster waren geschlossen. Die letzten Gäste waren, wie wir schon in Dimaro erfahren hatten, durch den panischen Schrecken verjagt worden, welchen das wohl beglaubigte Auftauchen zweier Bären verbreitet hatte. Einer dieser zottigen Gesellen sollte eine ganze Schafheerde an den Rand einer Schlucht gejagt haben, in welche sich die geängstigten Thiere kopfüber stürzten, und die eleganten Sommerfrischler trugen natürlich kein Verlangen, auf einer Frühpromenade an einer Krümmung des Weges plötzlich mit einem tiefen Gebrumm begrüßt zu werden: es war wirklich lächerlich leer in Madonna di Campiglio. Auf dem freien Platze vor dem Hotel vertrieben sich ein paar malerische Lazzaronigestalten die Zeit mit dem geliebten Kugelspiel Boccia, dessen Geheimnisse nicht auf den ersten Blick zu ergründen sind. Wir hatten sofort ein Zuschauerpublikum an ihnen, als wir an einem baufälligen Reck verwegenster Konstruktionen einige Aufzüge und Wellen probierten. Im „Dante Alighieri“ spielte eine Anzahl Arbeiter aus der nahen Sägemühle Karten und sie machten nach italienischer Art für hundert Gulden Lärm, während sie Alle für fünfzig Kreuzer verzehrten. Wir begnügten uns also damit, einen Liter Weißwein zu trinken und setzten dann unseren Marsch nach Pinzolo fort, den Magen auf den Abend vertröstend. Eine Art Sommerkneipe am Wege empfahl „Birra di Blumau“, und da das Blumauer Flaschenbier der beste Tropfen ist, den man in Tirol vorgesetzt bekommen kann, so vermochten wir der Lockung nicht zu widerstehen. Die Leute waren im Begriff, ihre Bude bis zur nächsten Saison zu schließen, brachten aber richtig noch eine Flasche Bier zum Vorschein und - konnten sich Glück dazu wünschen, es nicht mit Münchnern zu thun zu haben. Ohne Verbal- und Realinjurien wäre es in diesem Falle kaum abgegangen, denn ein durch mehrtägige Bierentziehung gereizter Bayer hätte in diesem Gebräu, das saurer geworden war, als das Gemüth einer alten Jungfer nur immer sein kann, schließlich ein boshaftes Attentat auf Leben und Gesundheit gewittert. Wir aber waren viel zu glücklich, um unserem Urtheil eine andere Form, als die eines Opfers an die unterirdischen Götter zu geben: wir gossen also die Brühe aus und setzten unseren Stab fürbaß, führten auf der herrlichen Straße parodierend den Parademarsch aus und sandten der Brentagruppe, die für diesmal nicht auf dem Programm stand, wie verführerisch sie auch herüberwinken mochte, manchen bewundernden Gruß. Wir waren weit davon entfernt, müde zu sein, als wir im ersten Abendgrauen in Pinzolo einrückten, und doch hatten wir dreizehn Stunden Marsch hinter uns und keinen warmen Bissen im Leibe, ja, ein zehnjähriger Schulknabe würde das Quantum Nahrung, das uns überhaupt zur Verfügung gestanden hatte, kaum als ein hinlängliches zweites Frühstück für sich anerkannt haben.

Die Kirche, in der Gottesdienst gehalten wurde, war derart überfüllt, dass die Betenden bis heraus auf die Straße knieten, darunter Frauen und Mädchen, denen der um Kopf und Schultern drapierte Schleier allerliebst stand. In der Kirche hätten wir auch den Führer finden können, der uns an den Mandrongletscher, nach der Leipziger Hütte und auf den Adamello führen sollte; wir fragten in seiner Wohnung vergebens nach ihm, man versprach uns aber, ihn nach der „Corona“ zu senden, damals dem Hauptquartier der Sektion Leipzig. Der Wirth hatte zwar als Freiwilliger unter schwarz-gelben Fahnen mit gegen die Schaaren Garibaldi's gefochten, sprach aber ebenso wenig Deutsch als sein Sohn und Erbe, der doch alle Veranlassung hätte, so viel Deutsch zu lernen, daß er mit seinen Gästen sich verständigen kann; und diese Gäste sind überwiegend Deutsche, denn das Bergsteigen gehört nur bedingungsweise zu den Gewohnheiten der sparsamen Italiener. Sie sind zu allen Zeiten gute Rechner gewesen und sehen nicht ein, warum man für das Anrecht darauf, in eine Gletscherspalte zu stürzen oder durch eine Schneewächte zu brechen, drei bis fünf Gulden Führerlohn bezahlen soll.

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_34_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)