Seite:Ficker Vom Reichsfürstenstande 029.jpg

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Ich sach hie vor eteswenne den tac,
daz unser lop was gemein allen zungen.
swâ uns dehein lant iender nâhe lac,
daz gerte suone oder ez was betwungen.
richer got, wie wir nâch êren dô rungen!

Walther v. d. Vogelweide.


Zwei grosse Aufgaben hatte unsere Nation in den früheren Jahrhunderten ihrer Geschichte zu lösen.

Bei der einen handelte es sich vorwiegend um ein Werk der Zerstörung, um die Zertrümmerung des Weltreiches, in welchem das staatliche Leben der Kulturvölker des Alterthums seinen Abschluss gefunden hatte. Nicht die Germanen allein haben an ihm gearbeitet. Während aber auf der thracischen Halbinsel die eindringenden slavischen Völker und ihre Genossen es nicht bis zu einer Sprengung der alten Form, zu einer Freimachung des Feldes für eine neue lebensfähige Gestaltung zu bringen vermochten; während andererseits der Sturm der Völker des Islam über die Länder des Südens dahinfuhr völlig aufräumend mit der alten Ordnung der Dinge, unvermittelt eine neue an ihre Stelle setzend: verband sich nur bei dem Vorgehen der Germanen mit dem Werke der Zerstörung zugleich genugsam der Charakter der Erhaltung, dass nicht schonungslos auch das zertreten wurde, was der Erhaltung werth, der Weiterentwicklung fähig war. Indem die Germanen das Staatswesen der alten Welt brachen, gleichzeitig aber der kirchlichen Ordnung derselben sich einfügten, ermöglichten sie die Entwicklung eines Kulturkreises, welcher der bestimmende für den Fortschritt der Menschheit werden sollte.

Die zweite grosse Aufgabe war wesentlich eine schaffende: es galt die staatliche Form zu finden, welche das Werk der Verschmelzung und Weiterentfaltung der ureigenen und der überkommenen Bildungselemente schirmen, weitere allgemeine Umwälzungen fern halten konnte. Auch dieser Aufgabe entsprach nach manchen nicht werthlosen, aber auch nicht genügenden Versuchen unser Volk durch die Gründung des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, einer politischen Schöpfung so eigenthümlicher Art, dass wir vergebens in der Geschichte nach einem Vorbilde oder einer Nachbildung ausschauen.

Empfohlene Zitierweise:
Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_029.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)