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uralten herkunft des Kalevalas und seiner gleichsam geheimnisvollen bewahrung im gedächtnis des volkes das interesse besonders wachrufen konnte. War doch jene auffassung von der entstehung des Kalevalas in gewisser weise selbst eine dichtung, und eine dichtung vermag ja unmittelbarer zu erwärmen als eine nüchterne wissenschaftliche auffassung. Das spiegelbild einer uralten vorzeit, das dem volke aus dem Kalevala vor augen trat, erhob gewiss die gemüter und steigerte das vertrauen auf die eigenen kräfte, dessen jedes volk bedarf und dessen steigerung dem darniederliegenden finnischen volk gerade in jener zeit von nöten war.

Aber das finnische volk hat keine ursache zu trauern, wenn die wissenschaft manche, vielleicht sogar schöne wahnbilder zerstört hat. Sie hat noch viel weitere ausblicke eröffnet. Das Kalevala, so wie wir es jetzt ansehen, ist für die wissenschaftliche forschung noch bemerkenswerter und stellt für die künstlerische phantasie vielleicht eine noch ergiebigere quelle dar als so aufgefasst, wie man es sich früher dachte.

Der wissenschaftlichen forschung erscheint heute das gedruckte Kalevala nur als eine, wiewohl die umfangreichste und bedeutendste variante unter vielen. Der name Kalevala hat sich uns zu einem gemeinschaftlichen namen für den ganzen kolossalen epischen liederschatz erweitert, den das finnische volk gesungen hat und von dessen umfang man eine vorstellung bekommt, wenn man den 1908–9 erschienenen, von A. R. Niemi herausgegebenen zweibändigen, 1500 Seiten starken ersten teil der alten lieder des finnischen volkes, der nur die epischen lieder aus Archangel-Karelien enthält, in die hand nimmt. Und ausser Finland, Russisch-Karelien und Olonez sowie Ingermanland gehört dem gemeinsamen volkspoesiegebiet auch das liederreiche gebiet des Estenlandes an, in dem Jakob Hurt seine grossartigen liederernten gehalten hat.


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_006.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)