Seite:Gellert Schriften 1 A 014.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Nachricht und Exempel
von
alten deutschen Fabeln.

Die Bemühungen, welche unsere Vorfahren seit einigen Jahrhunderten auf die Fabeln gewandt haben, sind, meiner Meynung nach, eben nicht so geringe, daß sie nicht einige Aufmerksamkeit verdienten. Und wenn ich zum voraus setze, daß viele von meinen Lesern nicht Gelegenheit gehabt haben dürften, sich in den Fabeln unserer Alten umzusehen: so hoffe ich, es wird ihnen nicht unangenehm seyn, wenn sie hier einige Proben von ihrer Schreibart finden.

Es gereichet der äsopischen Fabel überhaupt zur Ehre, daß sie fast bey allen Völkern, und zwar zu verschiedenen Zeiten, ungemein vielen Beyfall und viele Hochachtung gefunden hat. Sie ist unstreitig die älteste Spur des menschlichen Witzes. Sie war in den meisten Ländern, ehe die Wissenschaften dahin kamen; und sie vertrat in den Zeiten der Unwissenheit bey diesem und jenem Volke fast ganz allein die Stelle des Witzes und der Moral. Sie erhielt sich bey ihrer Ehre, da die Wissenschaften aufgiengen; und eine Erfindung, die Barbaren gefallen hatte, gefiel auch gesitteten und witzigen Völkern, und ward unter ihren Händen immer mehr verschönert. Meine Leser würden Ursache haben, von meiner Dienstfertigkeit nicht zum Besten zu urtheilen, wenn ich dieses erst erweisen wollte. Wer bey einer Sache, die niemand leugnet, mehr thut, als daß er ihrer erwähnet, der muß entweder Lust haben, etwas

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen. M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch, Leipzig 1769, Seite XIII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gellert_Schriften_1_A_014.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)