Seite:Gellert Schriften 1 A 017.jpg

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Genug, daß er weit wohlklingender schreibt, als man vor Opitzen schrieb. Endlich muß man auch bedenken, daß wir die eigentliche Bedeutung, den Nachdruck, und die Kraft vieler alten Wörter nicht genug verstehen; daß viele von solchen Wörtern, wenn sie auch heute zu Tage noch gebräuchlich sind, doch entweder mehr, oder weniger, zu bedeuten angefangen haben, und daß also oft eine alte Stelle, die uns matt und unkräftig, oder sonst nicht zulänglich ausgedrückt zu seyn scheint, dennoch kräftig, poetisch und richtig, gegeben seyn kann. Wer sich in alle diese Umstände setzet, wenn er den Winsbeck und andere alte gute Dichter liest, der wird ihre ungekünstelte Anmuth im Lesen empfinden, und da lebhafte und richtige Gedanken wahrnehmen, wo Andere nichts als verlegene Wörter und matte Vorstellungen sehen. Der Leser mag nunmehr aus folgenden Exempeln selbst urtheilen, ob ich den ungenannten Fabeldichter mit Rechte gelobet habe. Das erste Exempel soll die Fabel von dem Löwen und der Maus seyn. Ich will mir die Freyheit nehmen, und Commata und Punkte dazwischen setzen, damit man den Verstand leichter finden könne.

Eyns tages ein louwe sich erging
In ein walde, da er fing
Ein musz, die wolt er getöttet han.
Sie sprach: Herr louwe lant mich gan!

5
Was eren mag ein Kunig bejagen,

Ob von Ime ein Knecht wurt erslagen?
Des er gewalt hat, wan er vill.
Ist Im das ein ere? das ist nit vil.
Was grosser Künheit mag das gesin,

10
Ob ein louwe ein muselin

Ertöttet? der hat eren me,
Der geschaden mag, und nit tut we.

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen. M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch, Leipzig 1769, Seite XVI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gellert_Schriften_1_A_017.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)