Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 017.jpg

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Tochter. Er schickt die beiden ältesten dem Graumantel nacheinander in den Wald hinaus, aber dieser sendet jede reich beschenkt zurück. Graumantel erhält nun die jüngste, führt sie in ein prächtiges Schloß und schenkt ihr alle Herrlichkeiten darin, nur verbietet er ihr, eine einzige Luke im Fußboden des Zimmers zu öffnen. Er zeigt sich nur beim Essen, wo er sie bedient; nachts im Traum erscheint ihr ein schöner Jüngling. Einmal, als Graumantel abwesend ist, überwältigt sie die Neugierde, sie öffnet die Luke und sieht darunter gerade den Graumantel stehen. Indem kommt er auch aus der Ferne daher gegangen und fragt zornig: ‘Was hast du unter der Luke gesehen?’ Sie kann vor Schrecken nicht antworten und fällt wie tot zur Erde nieder; beim Erwachen ist das Schloß mit allen Herrlichkeiten verschwunden, und sie befindet sich in einer Wildnis. Hier erblickt sie auf der Jagd ein König und nimmt sie mit, und wegen ihrer Schönheit macht er sie zu seiner Gemahlin. Wie sie aber bei der Trauung ja gesagt hat, vergeht ihr die Sprache, und sie wird stumm. Sie bringt einen Sohn zur Welt, Graumantel erscheint und fragt, was sie unter der Luke gesehen habe; und da sie vor Schrecken nicht antwortet, so nimmt er das Kind mit und macht ihr den Mund blutig. Ebenso beim zweiten Knaben; das läßt der König noch hingehen, als aber beim dritten Mal sich dasselbe ereignet, so soll sie als Hexe verbrannt werden. Schon steht sie auf dem Scheiterhaufen, da erscheint der Graumantel und fragt abermals: ‘Was hast du in der Luke gesehen?’ Sie überwindet da ihre Angst und sagt: ‘Dich sah ich, du abscheulicher Graumantel’. In demselben Augenblick fällt der graue Mantel wie Asche zusammen, und der schöne Jüngling, den sie im Traum gesehen, steht vor ihr. Er nimmt sie mit auf sein Schloß, wo sie ihre drei Kinder findet, und erzählt ihr, eine Waldfrau, deren Liebe er verschmäht, habe ihn so verwandelt, daß sein Leib unsichtbar, nur der graue Mantel sichtbar sein solle; und erlöst könne er nur werden, wenn eine Königstochter mit ihm getraut würde, ihn liebe und drei Söhne mit ihm zeuge, ihn gleichwohl so hasse, daß sie vor seinem Anblick erschrecke und sich abwende.[1]


  1. In einer etwas süßlichen Bearbeitung gedruckt: ‘Grå Kappan, eller en bedröflig och mycket angenäm Historia om den däjelige Prinsen Rosimandro’, Nyköping 1818 u. ö. (Bäckström, Svenska folkböcker 2, 132–143. 1848), aber gut erzählt bei Molbech 1843 S. 54 ‘Graakappen’ = 1882 S. 33 nr. 12. Åberg nr. 227 ‘Gråkappan’. Allardt nr. 120 ‘Gråkappan’. Hackmans Register nr. 710.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_017.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)