Seite:HansBrassTagebuch 1953-06-23 001.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

für den Rest meines Lebens bedient sein.

     Am Nachmittag wird bekannt, daß an der Zonengrenze des Bezirks Tiergarten ein Volkspolizist einen 15jährigen Jungen erschossen haben soll. Der Anlaß dazu ist nicht bekannt. – Auch sonst scheint es nach Riasberichten überall in der DDR. noch zu gären. Man berichtet von Streiks u. anderen Unruhen.

Dienstag, 23. Juni 53.     

     Der erschossene Junge, der sich auf Westberliner Gebiet befunden hat, soll den Volkspolizisten durch beleidigende Zurufe gereizt haben. –

     Sonst hat sich nichts ereignet, die Russen denken vorläufig nicht daran, abzuziehen. Das Wetter ist sehr schön. Elisab. nimmt am Sonnabend ihren freien Haushaltstag, wir wollen nach Fangschleuse. Ich werde am Freitag Vormittag mit Anni u. Bettinchen hinfahren, Elisab. kommt am Nachmittag nach, wir werden am Montag wieder zurückkehren. –

     Die Demonstrationen in Ostberlin u. der DDR. haben bei der Bevölkerung der Bundesrepublik eine flammende Wut gegen die KP. hervorgerufen. Die Berl. Ztg. füllt ihre Spalten dagegen mit Beweismaterial über westliche Provokateure. Die SED, bzw. die Regierung der DDR. bemüht sich, durch Veröffentlichungen von allerhand sozialen Verbesserungen, die sofort durchgeführt werden sollen, die Wut der Arbeiter zu löschen, doch wird das nicht viel nützen. Die Arbeiter wissen jetzt, daß Freie Wahlen u. eine Gesamtdeutsche Regierung auf Grund dieser Freien Wahlen die Ziel aller Forderungen bleibt. Sie werden die kleinen sozialen, Verbesserungen gerne entgegennehmen, werden sich aber dadurch ihre großen Forderungen nicht abkaufen lassen, das ist jetzt klar. –

     Die drüben aufgeschlagene Wander=Hygiene-Ausstellung ist heute abgebrochen worden u. hinter ihrer schützenden Rückwand sind zwei Pakgeschütze der Russen zum Vorschein gekommen, die bisher den Blicken entzogen waren.

     3 Uhr nachm.

     Es findet vor dem Schöneberger Rathaus auf dem Rudolf-Wilde-Platz die Totenfeier Westberlins für die in westberliner Krankenhäusern verstorbenen Teilnehmer der Demonstration statt. Es sind sieben Särge, dazu ein leerer Sarg als Symbol für den standrechtlich erschossenen westberliner Arbeiter Göttlich. Es sprechen Bundeskanzler Dr. Adenauer, der zu diesem Zweck eigens herübergekommen ist, dann Bundesminister Jakob Kayser u. Berlins regierender Bürgermeister Prof. Reuter. Unter den Klängen der Freiheitsglocke setzt sich sodann der Zug nach dem Friedhof in der Seestraße in Bewegung, ein gewaltiger Demonstrationszug, der durch den

Empfohlene Zitierweise:
Hans Brass: TBHB 1953-06-22. , 1953, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1953-06-23_001.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2024)