Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1920 | |
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von X zu schreiben – dann hätte ich ein
Obdach – und gewiß kein schlechtes!“ Als er
unsere ungläubigen Mienen sah, meinte er: „Es
liegt mir daran, daß Sie wissen, wer ich eigentlich
bin .. Meines Vaters Namen will ich verschweigen.
Wozu ihn nennen, da ich ihn längst nicht mehr
führe. Meine Mutter starb aus Gram, weil alles
so anders kam, als sie es sich ersehnt hatte. Und
mein Vater ist darüber versteinert. Ja – wirklich,
er war zuletzt wie ein Steinbild ... Das kommt
alles auf – auf meinen besten Freund. Der hatte
dasselbe Handwerk wie Sie, Hochehrwürden.“
Seine blauen Augen funkelten höhnisch, als er so
sprach. „Ich hatte Botanik und Mathematik studiert.
Mein Freund also Theologie. Nun geschah es, daß
wir beide nach Beendigung unserer Studien zu
Hause weilten. Sie kennen die kleine Sommerresidenz
X nicht? Das Schloß liegt auf einem
Basaltkegel. An seinen Hängen wachsen seltene
Pflanzen. Ich hatte immer ein großes Interesse
an Heilkräutern und war damals auf der Suche
nach einer blaublühenden Hühnerdarre. Als ich
einen schmalen Acker hinaufgehe, – er zog sich in
einer Talchlucht hinauf bis zu einer Steinhalde,
die fast senkrecht abfiel, – höre ich ein helles
Kinderlachen und sehe zu meinem Entsetzten einen
kleinen Wagen herabrollen – vor dem ein Papierdrachen
herflog, der an das Vorderteil des kleinen
Gefährtes angebunden war, um das Kind zu belustigen.
Ich kannte den Drachen, – ich hatte ihn
selbst zusammengeklebt. Der Wagen rollte unaufhaltsam
auf die steile Halde zu, – er mußte in
den Abgrund stürzen, in einen unergründlichen
Teufelskessel – in das Wasserloch am Fuße des
Abhanges. Ich weiß heute nicht, wie es mir gelingen
konnte – da waren wohl Engel im Spiel,
weil es sich um ein unschuldiges Kind handelte –
und eins aus fürstlichem Hause – um den jungen
Erbgroßherzog. Ich packte den Wagen, brachte
ihn zum Halten – der Erbgroßherzog, damals ein
dreijähriges Bübchen – saß darin. Ich war halb
von Sinnen vor Schreck – denn die Bonne des
jungen Erbgroßherzogs war meine heimliche Braut
und unseres Pfarrers Tochter. Wie konnte dem
gewissenhaften Mädchen so etwas zustoßen – ja,
wie wohl? Oben im Schatten kühler Bäume saß
meine Braut, – neben meinem Freund, – eng
umschlungen – weltvergessen. Ich habe gebrüllt
wie ein Tier. Ich wollte beide erwürgen. Da
fing das Kind an zu weinen, weil es sich vor mir
fürchtete. Elisabeth – diesen schönen Namen trug
sie – sank auf den Erdboden und umklammerte
meine Knie. – „Schone uns!“ Er lachte und
ballte die Faust. „Ich brachte es fertig, ihr kurz
zu sagen, daß sie den Erbgroßherzog in Sicherheit
bringen solle, – alles andere würde sich finden –
aber einer sei zu viel auf der Welt. Spät abends
kam mein Freund. Er beschwor mich – ihn zu
schonen – er – wolle mir das Mädchen lassen –
Gras werde über die Geschichte wachsen. Pfui und
wieder pfui – ausgespien habe ich. Ich lasse sie
Dir, schrie ich ihn an, heirate sie, oder ich – vergesse
mich. Dann bin ich fortgegangen, nachdem
ich erlebt hatte, daß er sie öffentlich zu seiner Braut
gemacht hatte. Ich konnte es daheim nicht aushalten.
Ich wanderte nach Australien – kein
Bitten und Barmen meiner Mutter und kein
Fluchen meines Vaters hielten mich ab. Ich wollte
vergessen – draußen. Und bei Gott, es gelang
mir. Was ist Weiberliebe? Man kann darüber
hinwegkommen. Und sie blüht an vielen Orten,
und sie füllt eines Mannes Leben nicht aus. Fünf
Jahre hatte ich gebraucht, um diese Erkenntnis zu
gewinnen. Dann fuhr ich wieder heim. Die alte
Frau daheim sollte nicht um einen glücklichen
Lebensabend betrogen werden, und der alte Mann
sollte wieder lachen lernen. Ich fand meinen Freund
in Amt und Würden als Nachfolger von Elisabeths
Vater. Meine Mutter erzählte mir, er sei zu so viel
Ehre und an ein gutes Ziel gekommen, weil er
dem Erbgroßherzog – das Leben gerettet habe.
Er nahm mir die Braut und schmückte sich mit
der Tat eines andern. Mit der Liebe bin ich
fertig geworden, nicht mit meinem Haß. Ich war
zu ihm gegangen und hatte ihn unter vier Augen
einen Lumpen genannt. Er war aschfahl und
stumm. Meine Nähe war ihm unbequem. Es
konnte ihm nicht schwer fallen, allerlei schändliche
Gerüchte über mich zu verbreiten. Ach Gott –
das hätte mich weiter nicht angefochten. Aber es
erschien mir alles so zwecklos – wenn so etwas
möglich war – Herr – da empfand ich, wie weh
es tut, einen Freund verlieren, indem man ihn
verachten muß. Die Heimat war mir vergällt.
Ich ging fort. Ich ging und ging planlos die stille Straße entlang – dem Abend entgegen, in die Nacht hinein. Ich dachte – fände ich einen, der treu ist – Hunde fand ich, die treu waren, Menschen nicht. Manchmal kehrte ich wieder heim, weil es mir eine teuflische Freude machte, das furchtsame Gesicht meines Freundes zu sehen und zu hören, daß mich alle Leute für verrückt und in Laster verstrickt hielten. Als meine Mutter starb, warf mich mein Vater hinaus – er tat recht daran. Ich paßte nicht mehr zu den ordentlichen Bürgern, die am Tag ihrem Geschäft nachgehen und nachts schlafen. Dann bin ich untergetaucht – ich ging und ging – und fand mich wieder – ganz langsam – aber dann verlor ich mich nie wieder. Ich fand, daß ich mehr wußte ale viele andere,
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1920. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1919, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1920_042.png&oldid=- (Version vom 20.7.2019)