Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 110.jpg

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„platonische Staat“ für ein phantastisches Ideal, für die Einbildung eines Träumers, sprichwörtlich geworden ist.

Es ist noch nicht so lange her, daß er allgemein für nichts anderes gehalten wurde. Heutzutage hat man sich jedoch nachgerade überzeugt, daß hinter diesem Phantasiebild weit mehr Realität steckt, als man bei oberflächlicher Betrachtung glauben möchte. Nicht allein, daß Plato selbst seine Vorschläge ganz ernstlich genommen wissen will, und nur von ihnen Heil für die Menschheit erwartet: es ist auch so Vieles darin, was bestehenden Sitten und Einrichtungen entspricht, und auch ihre auffallendsten Bestimmungen erklären sich so vollständig aus den Zuständen jener Zeit und aus der Eigenthümlichkeit der platonischen Philosophie, daß wir darin nicht willkürliche Erfindungen, sondern nur Folgerungen sehen können, welchen sich der Philosoph gerade deßhalb nicht zu entziehen wußte, weil er ein Grieche des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und ein folgerichtig denkender Mann war. Gleich die erste Grundforderung seines Staats, die Herrschaft der Philosophen, ist zugleich aus den gegebenen Zuständen und aus den Voraussetzungen des platonischen Systems abzuleiten. Jenes, sofern die herkömmlichen griechischen Verfassungen sich sichtbar überlebt, und in den Wirren des peloponnesischen Kriegs wetteifernd am Verderben der Staaten gearbeitet hatten; sofern auch die wiederhergestellte Demokratie in Athen schon durch die Hinrichtung des Sokrates in Plato’s Augen sich ihr Urtheil unwiderruflich gesprochen hatte. Dieses, weil ein System, das alle Sittlichkeit auf’s Wissen gründen wollte, auch für den Staat keinen anderen Grund legen konnte, weil der Staat zum Abbild der Idee, das er nach Plato sein soll, nur von denen gemacht werden kann, die sich zur Anschauung der Ideen erhoben haben. Aehnlich sehen wir die Trennung der Stände aus einer doppelten Wurzel hervorgehen: aus der Verachtung des Griechen gegen die Handarbeit, welche den Meisten das Gewerbe, den Spartanern selbst den Landbau als eine Erniedrigung für den freien Bürger erscheinen ließ; und aus der Furcht des Philosophen, seine Bürger in die Beschäftigung mit der Sinnenwelt zu verwickeln, aus der Ueberzeugung, daß nur eine gründliche Geistes- und Charakterbildung zu den höheren Aufgaben des Kriegers und des Staatsmanns befähigen, und daß diese mit dem Streben nach irdischem Gewinn,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_110.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)