Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 116.jpg

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Ethik ungemein viel zu verdanken. Die Philosophie war aber in den letzten Jahrhunderten vor Christus bei allen Gebildeten, so weit die griechische Sprache und Literatur reichte, im Osten und im Westen, an die Stelle der Religion getreten, oder sie hatte doch ihre Auffassung der Religion so durchdrungen, daß von den alten Mythen kaum noch die Hülle übrig geblieben war; ihre wesentlichen Ergebnisse und vor Allem ihre sittlichen Grundsätze waren in die allgemeine Bildung übergegangen, zur Weltreligion geworden. Man brauchte gar nicht Philosoph von Profession zu sein, um an ihnen theilzunehmen: wer überhaupt das Bedürfniß eines höheren Unterrichts empfand, der besuchte die Schulen der Philosophen und las ihre Schriften; aber auch die Grammatiker, die Rhetoren, die Geschichtschreiber, selbst die Rechtslehrer und die Aerzte pflegten sich an philosophische Lehren anzulehnen und ihre Kenntniß vorauszusetzen. Diese verbreiteten sich so auf hundert Wegen, und wie viel sie auch hiebei an wissenschaftlicher Strenge und Reinheit verlieren mochten: ihre praktische Wirkung wurde unberechenbar erhöht. Auch das werdende Christenthum konnte sich diesem Einfluß nicht entziehen; und es sind gar nicht blos die platonisirenden Theologen der griechisch-orientalischen Länder oder die gnostischen Sekten, die ihn in die Kirche einführten: die griechische Philosophie hatte schon lange vorher zur Entstehung des Christenthums ihren Beitrag geliefert, und sie drang Jahrhunderte lang, wie der Hellenismus überhaupt, dessen edelste Früchte sie in sich vereinigte, von den verschiedensten Seiten her in die neue Religion ein. Schon das vorchristliche Judenthum war in den hellenistischen Kreisen mit griechischer Bildung und Wissenschaft tief gesättigt; Millionen von Juden, der größere Theil der jüdischen Nation, lebten in Ländern, die seit Alexander unter der geistigen Herrschaft Griechenlands standen, die in der Regel auch politisch von Griechen oder Halbgriechen beherrscht wurden; und schon der Verkehr des täglichen Lebens, schon die griechische Sprache, mit welcher die Meisten allmählig die ihrer Väter vertauschten, in welcher sie allein noch ihre heiligen Schriften zu lesen verstanden, mußte unmerklich unendlich viel griechische Jdeen bei ihnen in Umlauf setzen, am Meisten natürlich in den von Juden bewohnten Hauptstädten griechischer Bildung, wie Alexandria, wie Tarsus, dieser Sitz einer berühmten Philosophen- und Rhetorenschule,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_116.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)