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Trug zu Ende hundert Stiefel
Und zerrudert hundert Ruder,
Als er um das Mädchen freite,
Um Kyllikki sich bemühte.
     Kyllikki die schöne Jungfrau

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Redet selber diese Worte:

„Weshalb weilst du hier, o Schwächster,
Weshalb winselst du am Strande,
Wirbst du um ein hiesig Mädchen
Mit dem zinngeschmückten Gürtel;
Habe keine Zeit zu gehen,
Eh’ den Stein ich ganz zerrieben,
Eh’ den Stößel ich zerstampfet,
Eh’ den Mörser ich zerstoßen.“
     „Nicht beacht’ ich solche Wichte,

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Solche Wichte, solche Wische,

Wünsche einen schlanken Gatten,
Da ich selber schlanken Leibes,
Will, daß stattlich er erscheine,
Da ich selber wohlgestaltet,
Wünsch’ ihn von dem schönsten Wuchse,
Da ich selber schön gewachsen.“
     Wenig Zeit war hingegangen,
Kaum verfloß ein halber Monat,
Als an einem schönen Tage,

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Um die Zeit der Abendstunde

Munter dort die Jungfraun spielten,
Alle Schönen munter tanzten
In dem Hain am Wiesenrande,
Auf der schönen Bodenfläche,
Kyllikki vor allen andern,
Saari’s weitberühmte Blume.
     Kam der lebensfrische Bursche,
Kam der muntre Lemminkäinen
Mit dem eignen Hengst gefahren,

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Mit dem auserwählten Pferde

Mitten auf den grünen Spielplatz,
In den Tanz der schönen Mädchen;
Rafft Kyllikki in den Schlitten,
Reißt die Jungfrau hin zum Sitze,
Ziehet rasch das Leder über,
Bindet schnell zurecht die Leiste.
     Schlug das Roß mit seiner Peitsche,
Lärmte heftig mit den Riemen,
Jagte voller Hast von dannen,

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Sprach beim Jagen diese Worte:

„Nimmer dürfet ihr, o Mädchen,
Von mir irgend Kunde geben,
Daß ich zu euch hergefahren,
Daß die Jungfrau ich entführet!“
     „Falls ihr nicht gehorchen solltet,
Wird’s euch, Mädchen, schlimm bekommen,
Sing’ zum Kriege eure Freier,
Unter Schwerter eure Männer,
Daß in Tagen und in Monden

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Ja für immer nichts zu hören,

Sie nicht gehen auf den Gassen,
Auf den Fluren nimmer fahren!“
     Wohl genugsam klagt Kyllikki,
Wimmert Saari’s schöne Blume:
„Laß mich endlich doch in Freiheit,
Laß das Kind aus deinen Händen,
Laß nach Haus’ mich lieber wandern
Zu der Mutter, die da weinet!“
     „Wirst du mich nicht von dir lassen,

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Daß ich fort nach Hause gehe,

O, so hab’ ich fünf der Brüder,
Sieben Vaterbrüdersöhne,
Die des Häsleins Spur verfolgen,
Die die Jungfrau wiederfordern.“
Als sie nun nicht losgelassen,
Macht die Jungfrau sich ans Weinen,
Redet selber diese Worte:
„Froh bin, Ärmste, ich geboren,
Froh geboren, froh gewachsen,

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Froh verbrachte ich mein Leben;

Jetzt jedoch gerieth voll Unlust
Ich zu diesem Thunichtgute,
Zu dem kampfbereiten Manne,
Zu dem ewig wilden Streiter.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:
„Liebes Herzblatt, o Kyllikki,
Du mein honigsüßes Beerchen,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_056.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)