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     Sprach der Vater von dem Fenster,
Von der Schwelle her die Mutter,
Von der Pforte her die Brüder,
Von der Brücke so die Schwestern:
„Tiera hat nicht Zeit zum Kämpfen,
Seine Lanze nicht zum Kriegen;
Tiera schloß nun großen Handel,
Einen Kauf er auf sein Leben,
Nahm so eben sich ein Weibchen,

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Eine Wirthin für sich selber,

Unberührt sind noch die Brüste,
Ungedrücket noch der Busen.“
     Tiera lag dort auf dem Ofen,
Kuura auf dem Rand des Ofens;
Einen Fuß beschuht er oben,
Auf der Ofenbank den andern,
Nimmt den Gürtel bei der Pforte,
Schnallt sie zu erst weiter draußen;
Tiera greift nach seinem Speere,

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Nicht gehört er zu den größten,

Keineswegs auch zu den kleinsten,
Hat nur eine Mittelgröße:
An dem Rande stand ein Rößlein,
Auf der Fläche lief ein Füllen,
An der Fügung heulten Wölfe,
An dem Ringe brummten Bären.
     Schüttelte nun seine Lanze,
Schüttelt sie und schwingt dieselbe,
Wirft den Schaft dann einen Klafter

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In den thonumsäumten Acker,

In den festen Wiesenboden,
In die hügelleere Erde.
     Tiera stieß da seine Lanze
Mitten in die Lanze Ahti’s,
Ging sodann und stürmt voll Eile
Als des Ahti Streitgenosse.
     Schiebt der Inselländer Ahti
Seinen Nachen in die Fluthen,
Gleich der Schlange in den Stoppeln,

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Gleich der Natter voller Leben

Segelt es nun hin nach Nordwest
Zu dem Meere von Pohjola.
     Da entsandt’ des Nordlands Wirthin,
Läßt den bösen Frost sie ziehen
Zu dem Meere von Pohjola,
Zu den weitgedehnten Öden,
Redet selber diese Worte,
Giebt ihm Weisung dieses Inhalts:
„Frost, mein liebes, kleines Söhnchen,

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Kleiner, den ich schön erzogen,

Gehe hin, wohin ich schicke,
Ich dich schicke und entsende,
Laß des Burschen Boot erfrieren,
Lemminkäinen’s schnellen Nachen
Auf des Meeres klarem Rücken,
In der weitgedehnten Öde!
Mach’, daß auch der Wirth erfrieret,
In dem Boote er, der Muntre,
Daß er nimmer dort entrinnet,

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Nicht entkommt, solang’ du lebest,

Wenn ich selber ihn nicht löse,
Und ihn selber nicht befreie!“
     Frost, der Sohn aus schlechtem Stamme,
Er, der Jung’ mit schlechten Sitten,
Ging das Meer nun kalt zu machen,
Ging die Fluthen fest zu bannen;
Während er zur Stelle schreitet,
Auf dem Lande hin erst wandert,
Nimmt er alles Laub den Bäumen,

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Nimmt die Fasern er den Gräsern.

     Als er darauf hingekommen
Zum Gestad’ des Nordlandmeeres,
Zu den Ufern ohne Ränder,
Läßt er in der Nächte ersten
Buchten dort und Seen erfrieren,
Läßt des Meeres Strand erstarren,
Noch nicht selbst das Meer erfrieren,
Ungebannet noch die Fluthen;
Ist ein Finklein auf dem Rücken,

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Ist ein Wippsterz auf den Wogen,

Nicht erfroren sind die Klauen,
Nicht erstarrt das kleine Köpfchen.
     Drauf erst in der Nächte zweiten
Fängt er an sich breit zu machen,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_188.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)