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Schuhe ließ man mir die eisig,
Strümpfe, die von Schnee umgeben;
Ließ mich auf dem glatten Reife,
Auf den schwindelreichen Stegen,
Daß ich in die Sümpfe stürze,
In den weichen Moder falle.“
     „Nicht werd’ ich in diesem Leben,
Werde nimmer dazu eilen
In dem Sumpf ein schwankes Steglein,

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Eine Brück’ im Moor zu werden;

Werde in den Sumpf nicht stürzen,
Wenn ich zwei der Hände habe,
Fünf der Finger munter schwinge,
Zehn der Nägel hoch erhebe.“
     Schon kam seinem Sinn der Einfall
Haftet’ der Gedank’ im Hirne,
Nach Untamo’s Dorf zu gehen,
Um die Schmerzen seines Vaters,
Seiner Mutter Qual zu rächen,

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Seine eignen schlechten Tage.

     Redet Worte solcher Weise:
„Warte, warte, Untamoinen,
Du Verderben meines Stammes!
Komme ich zu dir zum Kampfe,
Werde ich die Stub’ zerstören,
Werd’ ich deinen Hof verbrennen.“
     Kam ein Mütterchen des Weges,
Blaubekleidet eine Alte;
Redet Worte dieser Weise,

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Läßt sich selber also hören:

„Wohin gehst du, Kullerwoinen,
Willst du, Sohn Kalerwo’s, eilen?“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Redet Worte solcher Weise:
„Ist mir in den Sinn gekommen,
Meinem Hirne eingefallen,
In die Fremde fortzuziehen,
Nach Untamo’s Dorf zu gehen,
Um des Vaters Tod zu rächen,

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Seinen Tod, das Blut der Mutter,

Um die Stube zu zerstören,
Sie zu Asche zu verbrennen.“
     Sprach die Alte diese Worte,
Ließ sich selber also hören:
„Nicht ist dein Geschlecht getödtet,
Nicht gestorben schon Kalerwo,
Noch am Leben ist dein Vater,
Wohlbehalten deine Mutter.“
     „O geliebte, theure Alte!

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Sage mir, geliebte Alte,

Wo denn ist mein lieber Vater,
Wo wohl weilt die theure Mutter?“
     „Dorten ist dein lieber Vater,
Dort ist die, die dich getragen,
An der Lappen weiten Gränzen,
An dem langen Strand des Fischsee’s.“
     „O geliebte, theure Alte!
Sage mir, o liebe Alte,
Wie wohl kann ich hin gelangen,

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Wie den Weg ich dorthin finden?“

     „Gut wirst du dahin gelangen,
Wirst auch unbekannt du kommen,
Wirst du durch die Waldung gehen,
An dem Strand des Flusses eilen;
Schreitest einen Tag, den zweiten,
Schreitest auch am dritten Tage,
Wanderst grade dann nach Nordwest,
Kommt ein Berg dort auf dem Wege,
Schreite an dem Fuß des Berges,

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Gehe links du von dem Berge;

Kommst darauf zu einem Flusse,
Dir zur rechten Hand gelegen,
Gehe an des Flusses Kante
Hin an dreien Wasserfällen,
Kommst zur Spitze eines Landzung’,
Einer langen Landspitz’ Ende,
Auf der Spitze steht ein Hüttlein,
Steht ein Fischerhaus am Ende,
Dorten lebet noch dein Vater,

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Lebet die, die dich getragen,

Leben deine beiden Schwestern,
Zwei der allerschönsten Töchter.“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Macht sich auf um fortzugehen;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_210.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)