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Schreitet einen Tag, den zweiten,
Schreitet noch am dritten Tage,
Wandert dann gerad’ nach Nordwest,
Kommt ein Berg dort auf dem Wege,
Selbst geht er am Fuß des Berges,

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Wendet links sich von dem Berge,

Eilet darauf hin zum Flusse,
Schreitet an des Flusses Kante,
An des Flusses linkem Ufer,
An den dreien Wasserfällen;
Kommt zur Spitze einer Landzung’,
Geht zum Ende dieser Spitze,
Auf der Spitze war ein Hüttlein,
An dem End’ ein Fischerhäuschen.
Gehet ein dann in die Stube,

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Nicht gekannt ist er im Raume:

Woher ist vom Meer der Fremde,
Woher ist er wohl von Hause?“
     „Kennet ihr den Sohn nicht wieder,
Kennt ihr nicht das Kind, das eigne,
Welches Untamoinen’s Helden
Mit sich fort nach Hause führten
Als sein Wuchs des Vaters Spanne,
Seiner Mutter Spindel gleich kam.
     Früher redete die Mutter,

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Sprach die alte Frau die Worte:

„O mein armer Sohn, Geliebter,
O du armes Silberschnällchen,
Bist du mit lebend’gen Augen
Diese Länder hier durchwandert,
Habe dich als todt beweinet,
Als schon lange umgekommen.“
     „Hatte vormals zwei der Söhne,
Zwei der allerschönsten Töchter,
Sind von diesen mir ganz spurlos

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Zwei der älteren verschwunden,

In dem großen Krieg mein Söhnlein,
Ohne Kunde meine Tochter;
Ist mein Sohn auch nun zurücke,
Will die Tochter nicht erscheinen.“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Fragte selbst zuerst die Mutter:
„Wohin ist sie denn gerathen,
Wo die Schwester hingekommen?“
     Sprach die Mutter solche Worte,

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Ließ sich selber also hören:

„Dahin ist sie hingerathen,
Dort die Schwester fortgekommen:
Ging nach Beeren in die Waldung,
An des Berges Fuß nach Himbeer’n,
Dorten ging das Huhn verloren,
Starb das Vöglein jähen Todes,
Eines Todes ohne Kunde,
Eines unbenannten Todes.“
     „Wer wohl sehnt sich nach der Tochter?

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Niemand anders als die Mutter,

Vor den Andern sucht die Mutter,
Sucht und forscht nach ihr die Mutter;
Also ging auch ich, die Arme,
Meine Tochter aufzusuchen,
Lief dem Bären gleich durch Wälder,
Schritt der Otter gleich durch Haine;
Suchte einen Tag, den zweiten,
Suchte an dem dritten Tage,
An des dritten Tages Abend

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Stieg ich endlich ganz zuletzt noch

Auf des hohen Berges Gipfel,
Auf die allerhöchsten Hügel,
Rief von dort nach meiner Tochter,
Forschte nach der Fortgekommnen:
„„Wo denn bist du, liebe Tochter,
Komme, Tochter, doch nach Hause!““
     „Also rief ich nach der Tochter,
Klagte ich nach der Verschwundnen;
Antwort gaben mir die Berge,

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Also tönt’ die Heide wieder:

„Rufe nicht nach deiner Tochter,
Rufe nicht und lärme nicht mehr!
Niemals wird sie hier im Leben,
Nicht sie in dem Lauf der Zeiten
Zu der Mutter Wohnung kehren,
Zu des Vaters Stapelplätzen.“

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_211.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)