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Hätte dann im zweiten Jahre,

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Oder doch im dritten Sommer

Als ein zartes Gras gegrünet,
Wär’ als Blume aufgeblühet,
Wär’ als Beer’ emporgeschossen,
Als ein rothes Preiselbeerchen,
Ohne diese Gräu’l zu hören,
Ohne diese Schmach zu fühlen.“
     Kaum hat also sie gesprochen,
Diese Worte kaum gesaget,
Sieh, da springt sie aus dem Schlitten,

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Stürzet in des Flusses Strömung,

In den Schaum des Wasserfalles,
In den Wirbel voller Feuer;
Dort verfiel sie ihrem Tode,
Stürzte dort zum Untergange,
Fand im Reich Tuoni’s Ruhe,
Frieden in dem Naß der Fluthen.
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Fährt empor aus seinem Schlitten,
Fing dann an gar laut zu weinen,

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Laut aus voller Brust zu klagen:

„O ich Ärmster ob der Tage,
Ob des schrecklichsten Geschickes,
Daß ich meine Schwester also,
Meiner Mutter Kind geschändet!
Wehe, Vater, Wehe, Mutter,
Wehe dir, der greisen Alten,
Wozu habt ihr mich gezeuget,
Mich in diese Welt gesetzet!
Besser wäre ich gewesen,

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Nicht geboren, nicht gewachsen,

Nicht in dieser Welt gediehen,
Nicht auf diese Erd’ gestellet;
Nicht war’s recht vom Tod gehandelt,
Von der Krankheit nicht geziemend,
Daß sie mich nicht schon getödtet,
Als ich zwei der Nächte zählte.“
     Löst das Kummet mit dem Messer,
Schneidet ab die Lederriemen,
Springet auf des Pferdes Rücken,

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Auf das Kreuz des Weißbestirnten,

Jagt ein kleines Strecklein Weges,
Eilet eine kleine Weile,
Hält auf seines Vaters Hofe,
Auf des Vaters eignen Fluren.“
     In dem Hofe stand die Mutter:
„Mutter, die du mich getragen!
Hätt’st du mich, o theure Mutter,
Gleich, sobald du mich geboren,
In der Badstub’ Rauch gestellet,

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Du die Thüren zugeriegelt,

In dem Rauche mich ersticket,
In der zweiten Nacht getödtet,
In dem Betttuch mich ertränket,
Mit der Decke mich versenket,
Hätt’st die Wiege in das Feuer,
In den Ofen du geworfen!“
     „Hätte dich das Dorf gefraget:
„„Wo denn blieb der Stube Wiege,
Weßhalb ist das Bad verriegelt?““

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Hättest Antwort du gegeben:

„„Hab’ verbrannt die Wieg’ im Feuer,
In den Ofen sie geworfen,
Lasse Korn im Bade keimen,
Mache Malz dort aus Getreide.““
     Früher fragte ihn die Mutter,
Forscht’ ihn aus die greise Alte:
„Was ist, Sohn, dir widerfahren,
Welches Wunder ist zu hören?
Bist, als kämst du von Tuoni,

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Aus den Gegenden Manala’s.“

     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Redet Worte solcher Weise:
„Wohl sind Wunder nun zu hören,
Wohl ein Frevel vorgefallen,
Da ich meine eigne Schwester,
Meiner Mutter Kind geschändet.“
     „Als die Abgab’ ich bezahlet
Und die Steuer ich entrichtet,
Kam ein Mädchen mir entgegen,

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Welches ich nach Lust liebkoste;

Diese war die eigne Schwester,
War das Kind von meiner Mutter.“

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_215.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)