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Neunundvierzigste Rune.


     Noch nicht wollt’ die Sonne scheinen,
Nicht das Gold des Mondes leuchten
In den Stuben von Wäinölä,
Auf den Fluren Kalewala’s;
Frost gerieth an alle Saaten,
An die Heerden schlecht Befinden,
Vögel fühlten selbst Befremden,
Lange Weile alle Menschen,
Da das Sonnenlicht nicht strahlte,

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Nicht des Mondes Schein erglänzte.

     Kannte auch der Hecht die Schluchten,
Kannt’ der Aar der Vögel Bahnen,
Und der Wind der Schiffe Zeiten;
Unbewußt blieb es den Menschen,
Wann der Morgen wieder graute,
Wann die Nacht sich niedersenkte
Auf die nebelreiche Spitze,
Auf das waldungsreiche Eiland.
     Rathen thaten da die Jungen,

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Dachten nach die Hochbejahrten,

Wie man ohne Mond wohl leben,
Ohne Sonne bleiben sollte
In den unglücksel’gen Strecken,
In dem armen Land des Nordens.
     Rathen thaten auch die Mädchen,
Waisen suchten Rath zu finden,
Gingen zu des Schmiedes Esse,
Sprachen Worte solcher Weise:
„Hebe, Schmied, dich von der Wand nun,

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Von dem Steine du, o Künstler,

Einen neuen Mond zu schmieden,
Schaffe eine neue Sonne!
Schlecht ist’s ohne Schein des Mondes,
Unbehaglich ohne Sonne.“
     Hob der Schmied sich von der Wand nun,
Von dem Steine sich der Künstler,
Einen neuen Mond zu schmieden,
Eine neue Sonn’ zu schaffen;
Bildet einen Mond von Gold dann,

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Eine Sonne neu aus Silber.

     Kam der alte Wäinämöinen,
Setzte sich bei seiner Thüre,
Redet Worte solcher Weise:
„Schmieder, du, geliebter Bruder,
Was denn klopfst du in der Schmiede,
Hämmerst du nun immerwährend?“
     Sprach der Schmieder Ilmarinen
Selber Worte dieser Weise:
„Bilde einen Mond aus Gold nun,

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Aus dem Silber eine Sonne,

Daß ich sie dann an den Himmel,
Zu sechs Sternendecken trage.“
     Sprach der alte Wäinämöinen
Selber darauf diese Worte:
„O du Schmieder Ilmarinen,
Machest dir vergebne Mühe!
Nicht erglänzt das Gold als Mondlicht,
Strahlet eine Silbersonne.“
     Bildet einen Mond der Schmieder,

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Schmiedet auch die Sonne fertig,

Hebet sorgsam sie nach oben,
Trägt gar schön sie in die Höhe,
Trägt den Mond zur Fichtenspitze,
In die lange Tann’ die Sonne;
Schweiß entströmte seinem Kopfe,
Feuchtigkeit von seinen Schultern
Bei der Mühe durch die Arbeit,
Von der Anstrengung des Tages.
     Bracht’ den Mond bereits nach oben,

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An die Stelle auch die Sonne,

Bracht’ den Mond zum Fichtenwipfel,
Zu der Tannenspitz’ die Sonne;
Scheinen wollt’ jedoch der Mond nicht,
Auch die Sonne dort nicht leuchten.
     Sprach der alte Wäinämöinen
Selber Worte solcher Weise:
„Zeit ist’s nun das Loos zu fragen
Und die Zeichen zu durchforschen,
Wo die Sonne hingerathen,

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Wohin uns der Mond entkommen.“
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_284.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)