Seite:Kapp, Aus und über Amerika, Band 1, S 373.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1

Philosophie erheben muß, wenn nicht alle sittliche und geistige Energie hinsiechen soll. Sie haben gesehen, welche neue Schöpferkraft Schiller und Göthe aus der Verschmelzung ihrer entgegengesetzten Prinzipien für sich selbst erwuchs, welche ungeheure Triebkraft sie damit zugleich der ganzen deutschen Wissenschaft mittheilten. Und doch war die Verständigung nur eine vorläufige, nur auf dem ästhetischen Gebiete. Wenn die poetische Verständigung zwischen Naturnothwendigkeit und sittlicher Freiheit schon solche Wunder wirken konnte, was darf man dann erst von der direkten vollseitigen Verständigung zwischen dem sittlichen und wissenschaftlichen Bewußtsein, zwischen dem Ideal und der Empirie des Lebens erwarten!

Geben Sie Gedankenfreiheit“ – ! – ruft Schiller’s Marquis Posa König Philipp zu. Von der Gedankenfreiheit erwartete der Maltheser die neue Blüthe des Menschengeschlechts. Haben wir sie hier? Gedankenfreiheit? Alle ihre Gaben hat eine gütige Macht über dieses Volk ausgeschüttet. Freie Institutionen, um deren Erringung andere Völker vergebens ihre besten Kräfte vernützen, sind ihm in der Wiege zugefallen; vielseitiges Talent, welches bei jedem Unternehmen in jedem Gebiete menschlichen Strebens den schnellen Vorsprung sichert, ein unbezwinglicher Idealismus, der noch immer eiserne Männer hervorbringt, Simsons, die den Löwen in seiner Höhle aufsuchen, die allein Tausende von Philistern mit Schrecken schlagen und stehend sterben. Hier denn, soll der große Gedanke der Menschheit, wie er aller frühern Geschichte vorgeschwebt, endlich verwirklicht werden? Hier wo es freie Institutionen, Fülle von Talent, heilige Gluth des Herzens gibt? Ach leider fehlt nur Eines: Gedankenfreiheit – und die Freiheit der Institutionen wird zum bloßen Mittel der Bereicherung; das Talent erzielt seine höchsten Triumphe im Schachspiel, die heilige Gluth des Herzens wird zum unfruchtbaren Fanatismus. Alles das, weil es an Muth zu denken, an philosophischem Ueberblick des Ganzen fehlt; weil man nicht einsehen will, daß wenn es Allen Ernst um die Wahrheit ist, es auf hunderttausend Irrthümer gar nicht ankommt; während zwischen dem praktischen Atheismus und dem einseitigen Idealismus für den anständigen Mann, wie für die Masse, gar nichts andres übrig bleibt, als die allgemeine respektable oder rohe Gleichgültigkeit, die man euphemistisch Toleranz


Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1. Verlag von Julius Springer, Berlin 1876, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kapp,_Aus_und_%C3%BCber_Amerika,_Band_1,_S_373.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)