Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 380.jpg

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Besonderer Beachtung werth sind die Überlieferungen der Indianer in Nordamerika. Der Herausgeber, der seine Jugend unter den Wilden verlebte, hat sie aus dem Mund einer alten Indianerin die ihn pflegte, vernommen. Er hat wohl die Darstellung und den Ausdruck etwas ausgeschmückt, doch, muß man gestehen, mit Sorgfalt und Geschick. Die Wilden zeigen sich nicht als ein rohes, vielmehr als ein geistig ausgestattetes und tiefsinniges, den edlern Richtungen der menschlichen Seele zugewandtes Volk, wie fremdartig ihre Sitte manchmal erscheint; man muß die tiefe Wahrheit und sinnreiche Kühnheit ihrer Bildersprache bewundern, ihren eindringenden Blick in die großartigen Erscheinungen der Natur wie in ihr heimliches Weben. An der Echtheit des Inhalts wird niemand zweifeln, der das Wesen der Überlieferung kennt. Das Bedeutungsvolle und Mythische liegt offen da, aber es ist mit den Zuständen und Ereignissen des täglichen Lebens so innig verbunden, wie das Wunderbare und Unglaubliche. Die Thiere stehen mit den Menschen in vertraulichem Verkehr, und der kluge, in selbsterbauten Wohnungen lebende Biber wird noch zu diesen gezählt. Die Thiere entbehren nicht der menschlichen Sprache, ja der Grund wird ausdrücklich angegeben, warum ein Theil von ihnen mit dem Verlust derselben bestraft ward. Wie auf dieser Seite die menschliche Natur herabsteigt, so erhebt sie sich auf der andern. Unsterbliche die in den Höhen des Himmels oder in den Tiefen des Abgrundes ihre Heimat haben, treten mit den Bewohnern der Erde in nahen Verkehr, verbinden sich mit ihnen durch Heirath, indem sie eine Zeitlang menschliche Gestalt annehmen und sich menschlichen Trieben und Leidenschaften überlassen. So empfängt die Beherrscherin des ewigen Schnees, deren Athem eisig ist, Lebenswärme und Gefühl erst in der Umarmung eines Menschen, nach dessen Tod sie wieder zu dem Nordlicht zurück kehrt. Der große Tagstern, wie die Sonne heißt, ist ein Mann, der Weib und Kinder hat: wenn er die Augen schließt, so wird es Nacht. Die Luft steht stille, wenn die Winde sich dem nöthigen Schlaf überlassen. Die ersten Menschen waren sechs Indianer, die am Meeresufer sitzend sich einmal neben einander fanden und dann ausgiengen Weiber zu suchen. Sie kommen zu einer bestimmten Zeit wieder zusammen, jeder bringt sein Weib und ein Kind mit und erzählt wie er dazu gelangt ist; aus einer andern Quelle (vergl. Friedrich Majer Religiöse Gebräuche und Ideen der Urvölker des nördlichen Amerika im mythologischen Taschenbuch

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_380.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)