Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 406.jpg

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dessen Tiefe man nicht kennt, aus dem aber jeder nach seinem Bedürfnis schöpft.

Ich leugne nicht die Möglichkeit, in einzelnen Fällen nicht die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines Märchens von einem Volk zum andern, das dann auf dem fremden Boden fest wurzelt: ist doch das Siegfriedslied schon frühe in den hohen Norden gedrungen und dort einheimisch geworden. Aber mit einzelnen Ausnahmen erklärt man noch nicht den großen Umfang und die weite Verbreitung des gemeinsamen Besitzes: tauchen nicht dieselben Märchen an den entferntesten Orten wieder auf, wie eine Quelle an weit abliegenden Stellen wieder durchbricht? Wie die Hausthiere, das Getreide, Acker-, Küchen- und Stubengeräthe, die Waffen, überhaupt die Dinge, ohne welche das Zusammenleben der Menschen nicht möglich scheint, so zeigen sich auch Sage und Märchen, der befeuchtende Thau der Poesie, so weit der Blick reicht, in jener auffallenden und zugleich unabhängigen Übereinstimmung. Auch in gleicher Nothwendigkeit des Daseins, denn nur wo Geldgier und die schnarrenden Räder der Maschinen jeden andern Gedanken betäuben, meint man ihrer entrathen zu können. Wo noch gesicherte, herkömmliche Ordnung und Sitte des Lebens herrscht, wo noch der Zusammenhang menschlicher Gefühle mit der umgebenden Natur empfunden und die Vergangenheit von der Gegenwart nicht losgerissen wird, da dauern sie fort. Die besten habe ich von Bauern vernommen, und ich weiß daß dies Buch von ihnen mit der größten Freude ist gelesen, ja im eigentlichen Sinne vergriffen worden; selbst bei den schon lange dem Vaterland entfremdeten Deutschen in Pensilvanien hat sich noch Empfänglichkeit dafür gezeigt. Will man sich eine plötzliche Ankunft der Sage denken, etwa wie den Strom eines wandernden Volks, der sich in unbewohnte Landesstrecken, in eine nach der andern, ergießt und sie erfüllt? Wie will man es erklären, wenn die Erzählung in einem einsamen hessischen Gebirgsdorf mit einem indischen oder griechischen oder serbischen Märchen seiner Grundlage nach übereinkommt?

Von dem Gemeinsamen das in der überall hervortretenden Erscheinung einiger scharf ausgeprägten Charaktere liegt, habe ich schon früher, in der Einleitung zu dem ersten Band der zweiten Ausgabe (L–LIV) geredet und will darauf zurückkommen. Der Dummling, ungeschickt zu allen Dingen, wozu Erfahrung, Witz und Gefügsamkeit gehören, wird anfangs zurück gesetzt, muß gemeine Arbeiten

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_406.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)