Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 409.jpg

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gibt Märchen die ausschließlich von solchen erzählen, die in ihrer Kunst den letzten Grad erreicht haben, und darin stimmen indische, deutsche, nordische und italienische Überlieferungen zusammen.

Endlich der Bruder Lustig oder der Spielhansel der sich um nichts kümmert als um ein fröhliches Leben, und den Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu beachten selten aufgelegt scheint. Da er aber von Natur nicht bösartig ist und eine solche Stimmung sich ohne Humor nicht durchsetzen läßt, so geht ihm manches hin, was bei andern für unerlaubt gilt, wie Shakespear seinen Falstaff, der nur in diesem Wasser schwimmen kann, sogar liebenswürdig zu machen gewußt hat. Die Märchen stellen ihn meist dar, wie er mit dem Herrn oder dem Apostel Petrus, die auf Erden wandeln, zusammen kommt. Der Herr will bei ihm herbergen, und der Bruder Lustig ist bereit das letzte mit ihm zu theilen, veruntreut aber gleich im Spiel den Groschen, der ihm gegeben war einen Trunk zu holen. Dem Apostel, der ihn in der Gestalt eines Armen um ein Almosen anspricht, reicht er seinen letzten Heller, und als dieser, weil er glaubt einen Frommen gefunden zu haben, mit ihm zieht, betrügt er ihn alsbald um das Herz des gebratenen Lämmchens und äußert seinen Verdruß daß jemand, dem so große Macht zu Gebote stehe, nicht mehr Geld zu gewinnen suche. Als Bärenhäuter dient er dem Teufel, wird aber aus der Hölle wieder fort geschickt. Den Tod hat er lange zum Narren, als er endlich genöthigt ist ihm zu folgen, wollen weder Himmel noch Hölle ihn einlassen, bis er durch eine List sich Eingang in jenen verschafft.

Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Dies Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden, und gibt dem Märchen seinen Gehalt, während es zugleich die natürliche Lust an dem Wunderbaren befriedigt; niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie. Das Mythische dehnt sich aus je weiter wir zurück gehen, ja es scheint den einzigen Inhalt der ältesten Dichtung ausgemacht zu haben. Wir sehen wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes und unbesorgt um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnisreichen und furchtbaren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche,

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_409.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)