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daß jemand Fremdes seiner tiefsten Seele lauscht. Er zerreißt die Saiten und die Töne plötzlich. Dissonanzen schrillen. Oder er nimmt gar die Laute und schlägt sie dem philisterhaften Greise, der ihn wie Susanne im Bade in seiner Nacktheit belauscht, auf den hohlen Schädel und um die Ohren. Diese ironischen Gedichte, gegen den Philister überhaupt und den Philister in der eigenen Brust gerichtet, gehören zu den merkwürdigsten Expressionen des menschlichen Pessimismus. Mit Ludwig Börne (aus Frankfurt, 1786–1837) und Karl Gutzkow (aus Berlin, 1811–1878) bekämpfte Heinrich Heine von Paris aus, wohin er aus dem gastlichen Deutschland geflüchtet war, „die Tyrannen und Philister“. Diesen Kampf vom Ausland her (man warf ihm, genau wie heute den deutschen Emigranten in der Schweiz, vor, daß er mit vergifteten Pfeilen Deutschland in den Rücken schieße) hat man ihm besonders übel genommen, und ganz besonders übel seine Stellung zu den Hohenzollern. Er erwies sich aber in seinen politischen Bemerkungen und Schriften („Französische Zustände“ usw.) als Politiker von untrüglichem Instinkt und adlersicherem Blick. Man höre, wie er in der „Lutezia“ die europäische Zukunft beurteilt. Er prophezeit ein großes „Spektakelstück“, den „gräßlichsten Zerstörungskrieg“ zwischen Deutschland und England–Frankreich–Rußland. „Doch das wäre nur der erste Akt des großen Spektakelstückes, gleichsam das Vorspiel. Der zweite Akt ist die europäische, die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden ...“

Heine war nicht nur Dichter, er war vor allem Schriftsteller. Als solcher hat er unter- und überirdisch eine Wirkung ausgeübt, die gar nicht überschätzt werden kann. Er ist der Prototyp des Zeitungskorrespondenten: der erste europäische Journalist und

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_065.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)