Seite:Klabund Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde 084.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Zarathustra“ der Lehrmeister der jungen und jüngsten Dichtung geworden. Als Lyriker gehört er zu den edelsten deutschen Lyrikern. Trotz den philosophischen Akzenten, die auf seinen Gedichten liegen, ist diese philosophische Betonung nur Vorwand. Lyrik an sich ist immer individualistisch (überindividualistisch), menschlich übermenschlich. „Frei“ war Nietzsches Kunst geheißen, „fröhlich“ seine Wissenschaft. Alle seine Lieder sind trunkene Lieder. Ob er sie singt, in Venedig in brauner Nacht an der Rialtobrücke stehend, oder sie von San Marco gleich Taubenschwärmen ins Blau hinaufsendet und sie wieder zurücklockt, ihnen noch einen Reim ins Gefieder zu hängen. Oder ob in Sils Maria ihn, der wartend sitzt, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel, der Schatten Zarathustras grüßt. Ob im Herbst, in der Ebene, die ersten grauen Krähen ihn überfliegen und ihn mahnen, daß der Winter naht.

Aus unbekannten Mündern bläst’s mich an,
– Die große Kühle kommt ...

Er wurde einsam. Immer einsamer. Und alle seine Lieder sang er schließlich nur noch sich selber zu, „damit er seine letzte Einsamkeit ertrüge“.

Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;
Und sprech’ ich – niemand spricht mit mir.

War die Natur Nietzsches eine Kreuzung aus Dionysos und Ahasver, die trotz aller Schmerzen die Ewigkeit, zu der sie verdammt war, lieben mußte, eine wilde, rasende, tobende Natur, die lieber brüllte als seufzte oder zwitscherte, – so ist Stefan George (geb. 1868 in Rüdesheim) der strenge Priester der Gelassenheit und Gebundenheit, der Verkünder ascetischer Lüste, maß- und zuchtvoll. Auch er verkündet wie Nietzsche eine Kunst, die jenseits von Gut und Böse wirkt, er steht den moralischen Forderungen der jungen Generation ferner als fern.

„Du sprichst mir nicht von Sünde oder Sitte.“ In einem

Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_084.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)