Seite:Märchen (Montzheimer) 102.jpg

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Mutig schritt der Königssohn voran, bis er das Tor des Turms erreicht hatte.

War der Zauberer schon schrecklich anzuschau’n gewesen, so übertraf der Anblick des Greifen diesen noch an Furchtbarkeit. Ein schmaler Lichtstreif fiel aus dem Turm auf den schrecklichen Wächter der unglücklichen Königstöchter herab.

Immo sah, wie das Ungetüm regungslos, jedenfalls schlafend, dicht vor der schmalen in den Turm führenden Pforte lag. Der Kopf, die Mähne, der Schweif glichen dem des Löwen, während die mächtigen Flügel und die furchtbaren Krallen eher dem Adler anzugehören schienen.

Immo faßte das Zauberschwert recht fest, während er sich vorsichtig dem schrecklichen Tiere näherte. Kein Zweifel, es schlief; die verstummten Glasglöcklein hatten ihre Wirkung getan. Als Immo ganz nah war, holte er zu einem mächtigen Hieb aus, der auch den einen Flügel gänzlich vom Körper trennte. Aber nun erwachte der Greif auch mit schrecklichem Geheul.

Doch schon sank der zweite Flügel, von wohlgelungenem Streich getroffen, hernieder.

Ehe der Unhold zum Sprunge auf seinen Angreifer fähig war, hatte Immo schon die Mähne mit sicherem Griff erfaßt, so daß sie im nächsten Augenblick neben den Flügeln am Boden lag. Fauchend, mit weitgeöffnetem Rachen vorwärts springend, versuchte der Greif nun, dem kühnen Jüngling die furchtbaren Krallen in den kampfesmächtigen Arm zu schlagen und seinen Schweif um des Prinzen Körper zu ringeln.

Doch tief in den gewaltigen Rachen tauchte die Klinge des Furchtlosen, daß ein mächtiger Blutstrom aufspritzte.

Wohl hatte Immo nach allen Mut und alle Kraft zusammenzunehmen, um das immer noch gefährliche Ungeheuer

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_102.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)